Mirja Maria Thiel

Alter im Bild: Alzheimer und reife Liebe

Sonntagsmatinee mit Mirja Maria Thiel

Mirja Maria Thiel machte ihre Foto-Leidenschaft zum zweiten beruflichen Standbein. Sie sucht für ihre Bilder bewusst andere Perspektiven und sieht in ihren Protagonisten nicht das, was andere Menschen möglicherweise sehen. Mit ihrer Arbeit macht sie auf Probleme und gesellschaftliche Missstände aufmerksam und lässt Menschen zu Wort kommen, die sonst eher im Hintergrund bleiben. Im Interview erzählt Thiel uns, warum sie sich vor allem mit dem Thema „Alter“ fotografisch auseinandersetzt.

Seit 2014 studieren Sie in Hannover. Wie kam es (so spät) dazu?

Das war ein glücklicher Zufall. Ich habe schon immer gern fotografiert, ab 2010 mit meiner ersten Digitalkamera. Ich habe viele Weiterbildungskurse an der Bremer Volkshochschule und in der Nikon-School in Hamburg belegt. Meine Bremer Fotogruppe machte mich dann auf die Workshops von Rolf Nobel aufmerksam, wo ich eins meiner Projekte vorgestellt habe. Nach einem seiner Kurse riet er mir dazu, mich an der Hochschule Hannover für seinen Studiengang zu bewerben.

Anhand welcher Kriterien wählen Sie die Geschichten aus?

Das Thema muss mich interessieren. Denn wenn es mich nicht neugierig macht, fällt es mir sehr schwer, einen Zugang zu finden.

„Es muss mich berühren, damit ich hartnäckig genug bin.“ 

Für mich muss eine Affinität zum Thema bestehen, denn ich muss meine Arbeit leidenschaftlich machen können. Ich fotografiere nicht, nur weil ein Thema gerade angesagt ist. Mit meinen Geschichten möchte ich – wie viele andere engagierte Fotojournalisten auch – auf Probleme und Missstände aufmerksam machen, Menschen eine Stimme geben oder ein Thema aus einer anderen Perspektive darstellen.

Und aus dieser Motivation heraus kamen Sie zum Thema Demenz?

Genau! Zurzeit suche ich mir meine Geschichten überwiegend vor der Haustür, ein größerer Radius ist mit drei Kindern und einem beruflich viel reisenden Ehemann nicht möglich. Aber das ist überhaupt kein Problem, denn auch vor der eigenen Haustür gibt es viele Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden – man muss sie nur suchen. 

Warum bearbeiten Sie überhaupt das Thema Älterwerden?

Im Studium war unsere Aufgabe, das Thema „Alter“ fotografisch umzusetzen. Damals habe ich eine Biologin begleitet, die überwiegend mit demenzerkrankten Menschen arbeitet und im Rahmen der sogenannten „Tiergestützten Intervention“ Menschen im Altenheim besucht. Dabei kam in mir der Wunsch auf, eine persönliche Demenz-Geschichte zu erzählen. So entstand das Projekt „Farewell Sonata“ . Mein anderes Projekt „All this Love“ entstand in einem Hochschul-Seminar der internationalen Klasse mit dem dänischen Fotografen Mads Nissen [Mads Nissen war im ersten Jahr der World Press Photo Oldenburg zu Gast]. Da zur Liebe eines Paares auch immer die Sexualität gehört und ich mit älteren Menschen gut zurechtkomme, wollte ich auch einmal die schöne Seite „des Alters“ darstellen.

Eine wirklich schöne Seite, wie Ihre Bilder zeigen. Trotzdem: Sich nackt neben seinem Partner fotografieren zu lassen, ist extrem intim – wie finden Sie Ihre Protagonisten?

Zugegeben war das sehr schwierig. Ich habe es dann auch nur über Beziehungen geschafft. Denn viele ältere Menschen haben noch eine wesentlich konservativere Einstellung. Für das Seminar an der Hochschule sollte ich aber wenigstens ein Paar fotografieren. Mit Info-Zetteln im Supermarkt und Zeitungsannoncen bin ich gescheitert, zum Erfolg führten die letztendlich persönliche Kontakte einer Bremer Bildhauerin, die ich porträtierte. Sie hat mein Projekt unter ihren Kursteilnehmern beworben und tatsächlich erklärte sich ein Paar im Alter von 79 und 80 Jahren bereit, mein Projekt zu unterstützen. Ein weiteres Paar vermittelte mir eine Sexualtherapeutin.

Nähe und Offenheit spielen dabei eine wichtige Rolle. Wie stellen Sie diese her? Gab es auch Fälle, bei denen Ihnen diese Offenheit verweigert wurde?

Je mehr man sich nicht nur als Fotograf, sondern auch als Mensch mit seiner Persönlichkeit einbringt, desto mehr bekommt man auch zurück. Es ist wichtig, mit den Menschen zu reden und ihnen zu zeigen, dass man sich für ihr Leben interessiert. Es erfordert viel Mut und Kraft von ihnen, sich zu offenbaren, deshalb erzähle ich immer auch Geschichten aus meinem eigenen Leben. Das macht mich zwar verwundbar, aber auch menschlich und lindert das ungleiche Kräfteverhältnis. Diese Art der Fotografie ist sehr persönlich, zeitaufwendig und auch emotional fordernd, aber ich bekomme immer etwas zurück, das über die Bilder hinausgeht.

Wie nah darf man persönliche Schicksale an sich heranlassen?

Um selbst gesund zu bleiben, muss sich ein Fotograf ab einem gewissen Punkt auch selbst schützen – leichter gesagt, als getan. Das „Portrait of an Artist as an Old Man“ mit Fritz Dressler hat mich psychisch sehr stark gefordert und tut es noch immer. Er ist ein unglaublich faszinierender Mensch, dem ich in relativ kurzer Zeit sehr nah gekommen bin, ebenso seiner Familie. Immer in dem Wissen, dass der Abschied bereits begonnen hat. Ich besuche ihn oft, immer in der egoistischen Hoffnung, er möge mich doch bitte noch erkennen. Jeder Fotograf geht anders mit solchen Situationen um. Aber gerade im Bereich der „Concerned Photography“ – also der anteilnehmenden Fotografie – ist es oft schwer, die notwendige Distanz einzuhalten. 

Auf Ihrer Website sagen Sie: Next to local photojournalism Mirja works primarily on personal long-term documentary projects.“ Können Sie von Ihren Herzensprojekten leben oder braucht es „klassische“ Presseaufträge, um sie zu finanzieren?

Nein, von Langzeit-Projekten mit sozialer Thematik kann niemand leben. Das muss irgendwie gegenfinanziert werden – zum Beispiel durch klassische Presseaufträge oder auch eine andere Erwerbstätigkeit. In meinem Fall sind das Lektoratsarbeiten. Meine Geschichten sind bislang überwiegend privat finanziert. Das wird für mich dauerhaft nicht möglich sein. Doch ich bin jetzt 47 Jahre alt und habe weder die Zeit noch die Kraft, mit jungen flexiblen Fotografen oder erfahrenen Profis in diesen schwierigen Zeiten zu konkurrieren. Ich will unbedingt diese Art von persönlichen Geschichten erzählen, und ich werde auch einen Weg finden, sie zu finanzieren.

 

Am 17. Februar berichtet Mirja Maria Thiel bei einer Sonntagsmatinee in der Buchhandlung Isensee von ihren Projekten – für 3 Euro Eintritt gibt es Kaffee, Croissant und interessante Einblicke hinter die Kulissen ihrer Arbeit.

Autor: Sabrina Bindernagel