Wo sind die schwerbewaffneten Soldaten, die blutigen Kriegswunden, die gewaltvollen Aufstände? Der diesjährige Jahrgang des World-Press-Photo-Wettbewerbs ist still. Unkonventionell. Zurückgenommen. Gerade das macht die Fotos so ausdrucksstark.
Auf den ersten Blick wirken viele Bilder beinahe fröhlich. Bunte Farben. Gelungene Bildkomposition. Gibt es kein Leid mehr, das dokumentiert werden könnte? Ist die Welt auf einmal in Ordnung? Die Fotos lassen es beinahe vermuten. Doch wenn wir sie uns genauer ansehen und die Geschichten dahinter erfahren, treffen sie uns plötzlich doch. Vielleicht sogar noch stärker als Aufnahmen von Kriegsexplosionen oder zerstörten Dörfern. Abgestumpft durch die Bilder, die wir täglich in den Medien sehen, lassen uns auch schockierende Motive oft kalt. Die ruhigen, unaufgeregten Fotos des aktuellen Jahrgangs hingegen lösen Emotionen aus. Und führen uns die Missstände dieser Welt auf ganz besondere Weise vor Augen.
Ein Krieg ohne Gewinner
Es könnte beinahe idyllisch sein. Eine ältere Dame im Morgenmantel. Zwei flauschige Katzen auf der Fensterbank. Eng aneinander gekuschelt sehen sie ihr Frauchen neugierig an. Die Dame lehnt sich an den Türrahmen. Sie wirkt nachdenklich. Was könnte sie beschäftigen?
Die 69-Jährige heißt Abovyan Hasmik. Sie lebt in einem Dorf in Bergkarabach. Sie weint. Das Bild des Fotografen Valery Melnikov entstand am 30. November 2020. Zwei Monate zuvor eskalierte der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um das überwiegend von Armenier:innen bewohnte Gebiet Bergkarabach. 4.000 Menschenleben forderten die Kämpfe. Es handelt sich um die brutalsten Auseinandersetzungen, die die Region seit den 1990er-Jahren erlebt hat.
Es fällt schwer, sich vorzustellen, was Abovyan Hasmik erlebt hat. Wie viele Familienmitglieder und Freunde hat sie in den Kämpfen verloren? Muss sie ihre Heimat verlassen? So ruhig und doch so emotionsgeladen lässt uns das Foto Anteil haben am Schicksal der Menschen, die von diesem schrecklichen Krieg betroffen sind.
Gegen den Hunger
Keine zerbombten Häuser. Keine abgemagerten Kinder. Keine gequälten Gesichter. Nur eine Frau und ihr Sohn, die gemeinsam Fischen gehen. Das Meer scheint ruhig, von Hektik keine Spur. Und doch steht das Bild des Fotografen Pablo Tosco für eine der größten humanitären Krisen der Welt: die Folgen des noch immer andauernden Bürgerkriegs im Jemen.
Straßen, Schulen und Flughäfen sind zerstört. Es gibt kaum noch Brunnen und damit sauberes Trinkwasser. Die Krankenhäuser sind in einem derart schlechten Zustand, dass Verletzte nicht mehr behandelt werden können. Etwa 24 Millionen Menschen sind von Hungersnot bedroht.
Um ihre neun Kinder zu ernähren, hat Fatima sich ein Boot gekauft und ist in ihr altes Dorf zurückgekehrt, das in Folge bewaffneter Konflikte zerstört wurde. Es gehört zu den Lieblingsfotos von Nayan Tara Gurung Kakshapati, Vorsitzende der World-Press-Photo-Jury 2021: „Das Foto, das Fatima und ihren Sohn beim Fischen zeigt, wird mir als kraftvolles Bild für Handlungsmacht und Widerstandsfähigkeit in Erinnerung bleiben.“
Warten auf Gerechtigkeit
Als offener Kritiker des Präsidenten Alexander Lukaschenko – von Medien auch als „Europas letzter Diktator“ bezeichnet – wurde Paval Sieviaryniec beim Sammeln von Unterschriften verhaftet. Amnesty International betrachtet ihn als politischen Gefangenen und fordert seine sofortige Freilassung.
Auf dem Bild der belarussischen Fotografin Nadia Buzhan sehen wir Olga Sieviaryniec, Pavals Frau, wie sie vor einem Gefängnis der belarussischen Hauptstadt Minsk auf die Freilassung ihres Mannes wartet. Mehr als sechs Wochen wurde dieser bereits in Untersuchungshaft gehalten. Seiner Familie teilte man mit, dass er endlich entlassen werden würde. Olga wartete zwei Stunden vor dem Gefängnis. Doch von Paval keine Spur.
„Das Bild strahlt Ruhe aus und steht im Kontrast zu einem sehr von Gewalt geprägten Kontext“, findet Sanne Schim van der Loeff, Kuratorin der World-Press-Photo-Stiftung. Es steht für die Unterdrückung derer, die den Mächtigen gegenüber für die Wahrheit eintreten. Das betrifft leider nicht nur Paval. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen am 9. August 2020 vollzog sich in Belarus eine brutale Repressionswelle gegen zivilgesellschaftliche Akteur:innen, häufig unter Einsatz übermäßiger Gewalt.
Beim aktuellen World-Press-Photo-Jahrgang lohnt es sich einmal mehr, genau hinzuschauen. Dann erinnern uns die Fotos – leise und dennoch entschlossen – daran, dass Krieg, Leid und Ungerechtigkeit für viel zu viele Menschen auf der Welt noch immer bittere Realität sind.
Autorin: Jessica Foppe