Philipp Hannappel / Timo Jaworr

Auf der Suche nach Heimat

Philipp Hannappel und Timo Jaworr fotografieren und filmen seit vier Jahren die Niwchen auf der russischen Insel Sachalin.

Fotografie ist in der globalisierten Welt zu einem schnellen, konsumorientierten Produkt geworden. Die Lebensspanne einer Aufnahme hat sich extrem verkürzt: Fotos werden nicht mehr ins Album eingeklebt und immer wieder hervorgeholt, sondern verschwinden auf dem Speicher des Smartphones und werden nie wieder angesehen. Wer hat da noch Zeit und Geduld, sich intensiv mit einem Thema zu beschäftigen?

Wie ein verästelter Baum erstrecken sich die Spuren der Schneemobile über das Eis des Meeres.

Zum Beispiel Philipp Hannappel und Timo Jaworr. Die Fotografen kennen sich seit ihrem Studium an der Hochschule Hannover. Sie sind langjährige Freunde und interessieren sich für fotografische Langzeitdokumentationen, vor allem von Themen, die in der schnelllebigen Gesellschaft unter den Tisch fallen. So entstand ihr Fotoprojekt „Ych Mif – Insel der Ahnen“. Es kristallisierte sich früh heraus, dass keiner der beiden alleine daran arbeiten könnte, schon gar nicht in so einer abgeschiedenen Gegend wie dem Nordosten Sibiriens. Also begannen die beiden Hannoveraner ein gemeinschaftliches Multimediaprojekt, das inzwischen über vier Jahre andauert.

Ein unbekannter Ort und ein unbekanntes Volk

Das Traditionsgericht Jukola wird zum Trocknen aufgehängt. Dabei hilft Daniel (Bild) seinem Onkel Ruslan.

Das ungewöhnliche Vorhaben wurde durch den Roman „1Q84“ von Haruki Murakami inspiriert. Darin erwähnt der Autor alte indigene Kulturen im Osten Russlands. Das weckte das Interesse der zwei Fotografen an der Insel Sachalin. Sie wurde über die Jahrhunderte stark umkämpft, war Gefängnisinsel mehrerer Nationen und Kriegsschauplatz, bis sie nach dem Zweiten Weltkrieg ganz an Russland ging. Schon vor 12.000 Jahren siedelten die Niwchen dort, „Ych mif“ nannten sie das Gebiet. „Insel der Ahnen“ sagen die Menschen heute.

Wichtig ist Sachalin schon lange wegen ihrer Ressourcen: Sie liefert Holz, Fisch und – am wichtigsten für Russland heute – einen erheblichen Teil der russischen Erdölförderung. Hannappel und Jaworr planten deshalb zunächst, die Insel und ihre Bewohner aus einer ökologischen Perspektive zu zeigen. Vor Ort entstand jedoch eine ganz andere Geschichte, die sich leise und im Kleinen mit dem Heimatgefühl der Menschen beschäftigt. Das motiviert die BFF-Förderpreis-Stipendiaten: „Gerade dieser Punkt ist es, der uns immer wieder zurück auf diesen grauen Fleck auf der Karte zieht.“

Von einer zufälligen Begegnung zum Protagonisten

Ruslan Njawan auf seinem Motorboot an der Küste Nekrasovkas im Ochotskischen Meer.

Nach intensiven Recherchen halfen ihnen befreundete Fotografen und Bekannte in der Amur-Region auf dem russischen Festland, erste Kontakte zu knüpfen. Dabei gingen sie pragmatisch an die Sache heran: „Insgesamt kann man unseren ersten Besuch als sehr blauäugig beschreiben. Wir haben uns durchgefragt, ob jemand wen kennt, der wen kennt, und so weiter. Als erstes haben wir Ruslan und Sascha Njawan getroffen, die letzten Endes die Hauptprotagonisten in unserem Projekt wurden.“ Die Njawans sind eine der letzten niwchischen Familien, die an den alten Traditionen und Lebensweisen festhalten. Durch gemeinsame Ausflüge wuchs das Vertrauen schnell und die Familie lud sie ein, in ihrem Haus zu bleiben und ihren Alltag zu teilen.

Bogdan und seine Schwester Liljan spielen Verstecken.

Besonders berührend waren dabei vor allem die Momente, die mit Absicht nicht fotografisch festgehalten wurden. Bei einem Ausflug durften die Filmemacher an der sogenannten Fütterung des Meeres teilhaben, einer spirituellen und sehr persönlichen Zeremonie. Dabei werden Körner, Samen und Tee ins Wasser geworfen und Gebete gesprochen, damit das gesättigte Meer weiterhin viel Fisch liefert. Das Duo war nachhaltig beeindruckt: „Dieses Erlebnis zeigte uns die Tiefe einer Kultur, von der wir bis zu diesem Zeitpunkt nur Verlorenes kennengelernt hatten.“

Zurück zu den Wurzeln 

Ruslan und Sascha hätten die Insel verlassen können, für besser bezahlte Jobs in milderen Klimaregionen. Sie verzichteten bewusst darauf, um sich auf die Lebensweise ihrer Vorfahren zu besinnen. Ein Gefühl von Unabhängigkeit und Naturverbundenheit ist tief in ihnen verwurzelt. Man erkennt schnell, wie sehr sich ihr Leben von dem der zukunftsorientierten Europäer unterscheidet. Gerade deswegen sollten wir uns die Niwchen zum Vorbild nehmen, so die Fotografen. In einem kleinen Dorf, das noch nie von Fremden besucht wurde, wurden sie offen, interessiert und herzlich empfangen.

Die Fotografen hinter dem Projekt: Timo Jaworr (links) und Philipp Hannappel (rechts)

Abgeschlossen ist das Projekt noch nicht. Schließlich gibt es keine leichte Antwort auf die Frage, wie die Niwchen zwischen Tradition und Moderne Heimat finden. Denn der Umgang mit ihren kulturellen Wurzeln könnte nicht unterschiedlicher sein: Wo die einen autark und wie die Ahnen leben, katalogisieren andere ihr materielles Erbe für Museen. Durch Smartphones, Internet und soziale Medien nehmen sie gleichzeitig immer mehr am modernen Leben teil und entwickeln neue Interessen. Viele junge Niwchen sitzen da zwischen den Stühlen. Gerade das macht den Reiz des Projekts aus, finden Philipp Hannappel und Timo Jaworr. Sie wollen weiterhin verfolgen, wie die Niwchen auf ihre ganz eigene Weise Heimat verstehen und bewahren.

Autorin: Theresa Wunderlich

 

Philipp Hannappel und Timo Jaworr werden voraussichtlich am Sonntag, dem 21. März, in Oldenburg zu Gast sein und ihr Projekt „Ych Mif – Insel der Ahnen“ im Rahmen einer Sonntagsmatinee vorstellen. Beginn ist um 11 Uhr im Restaurant Schirrmann’s der Jugendherberge.