Egal ob Text, Bild, Ton oder Film – solange uns Medien eine gute Geschichte erzählen, die bewegt, mitreißt, beglückt oder bestürzt, erfüllen sie ihren Zweck. Gute Geschichten sind ebenso informativ wie unterhaltsam; sie zeigen uns Aspekte der Welt, die uns ansonsten verborgen geblieben wären. Im besten Fall rütteln sie uns auf und machen uns empfänglich für die Sicht und die Erfahrungen, aber auch das Leid anderer Menschen.
Und die neuen Medien machen es Journalisten immer einfacher, sich bei ihrer Arbeit nicht auf eine Form beschränken zu müssen. Dank der digitalen Umwälzungen der letzten Jahre können sie heute crossmedial arbeiten und bei ihren Berichten alle technischen Register ziehen, um ein möglichst großes Publikum möglichst hautnah zu erreichen. Das hat mit großem Erfolg auch Lela Ahmadzai getan – mit ihren Kurzfilm-Feature „Stille Nacht“ über den Amoklauf von Kandahar:
In der Nacht des 12. März 2012 verließ ein amerikanischer Soldat sein Feldlager und tötete wahllos 16 afghanische Zivilisten. Sofort nach der Tat wurde er in die USA ausgeflogen. Die Fotografin und Multimedia-Journalistin Ahmadzai recherchierte den Fall, sprach mit Augenzeugen und wurde 2014 für die multimediale Aufarbeitung mit einem World Press Photo Award ausgezeichnet.
Schon seit 2011 prämiert die Jury des World Press Photo-Wettbewerbs die besten Beiträge im Bereich des Videojournalismus und des dokumentarischen Storytellings. Ziel ist es, in der sich rasch wandelnden Medienlandschaft neuen Formen des visuellen Erzählens Raum zu geben und ihnen zu mehr Popularität zu verhelfen. 2016 wurden in diesem Wettbewerb in vier Kategorien 369 Produktionen eingereicht. „Die Auswahl umfasst eine erstaunliche Vielfalt an Dokumentarfilmen, von linearen 15-minütigen Erzählungen bis zu großen interaktiven Projekten“, berichtet Jury-Mitglied Charlie Philips. Und um den Stellenwert noch stärker zu unterstreichen, wird der bisherige Mulitmedia-Wettbewerb ab dem kommenden Jahr durch den „Digital Storytelling Contest“ abgelöst.
Das Feature „Stille Nacht“ und andere Arbeiten Ahmadzais zeigen exemplarisch, welche enormen Potenziale das digitale Storytelling birgt. Sie sind auf der Internetseite ihrer Produktionsfirma 2470.media zu sehen. Auf Webseiten können interaktive Elemente eingefügt werden, bei denen der Leser selbst entscheidet, wie intensiv er in ein Thema einsteigen will. Timelines, Grafiken und dokumentarisches Material können die Filme ergänzen. Durch Ton-Installationen etwa bekommen Fotoausstellungen einen zusätzliche Komponente, die die Emotionen der Besucher anspricht. So kann der bedrückende Klang eines landenden Militärhubschraubers ein Foto atmosphärisch stark verdichten und die Situation für den Betrachter noch erfahrbarer machen.
Lela Ahmadzai lebt und arbeitet in Berlin. Sie wurde in Kabul, Afghanistan, geboren und wanderte im Alter von 17 Jahren nach Deutschland aus. Es folgte ein Studium an der Hochschule Hannover. Seit 2003 fährt sie regelmäßig nach Afghanistan zurück, um die Veränderung in dem Land, vor allem für die einfachen Menschen zu dokumentieren, die sonst kaum Aufmerksamkeit bekommen. Ahmadzais Bilder und Filme werden in internationalen Magazinen und Ausstellungen gezeigt und schaffen genau das: Menschen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden.
Beim Vortrag Ahmadzais im Veranstaltungssaal der OLB in der Gottorpstraße konnten sich gestern Abend etwa 60 Zuschauer über die Entstehungsbedingungen der Reportage informieren. Sie verfolgten die spannenden wie authentischen Berichte sehr interessiert und teils bewegt. Die Journalistin gab Einblicke in ihre Arbeit und erklärte an Beispielen und Beobachtungen, warum immer mehr Fotografen zu digitalen Geschichtenerzählern werden und daran in Zukunft wohl kein Weg mehr vorbei führen wird: „Um der täglichen Bilderflut im Netz zu entkommen, müssen wir vor allem gute Geschichten erzählen. Denn sie sind es, die etwas auslösen. Das funktioniert multimedial am besten.“ Und dass Ahmadzai eine ganz wunderbare Geschichtenerzählerin ist, wurde im Vortrag sowie bei der abschließenden Fragerunde mit dem Publikum sehr deutlich.
Text: Eva Tenzer / Foto: Phyllis Frieling