“Das Leben mit der Tragödie” – Rüdiger Lubricht über sein fotografisches Langzeitprojekt in Tschernobyl

“Doch, doch”, meint Rüdiger Lubricht schmunzelnd, in Worpswede gebe es schon noch genügend Motive. Natur und Landschaft vor allem. Aber immer nur das Idyll zu zeigen, das sei ihm zu langweilig. Lubrichts Kamera – zumeist ein klobiges, unhandliches Plattengerät – liebt die Brüche, die Ecken und Kanten. “Die haben für mich einfach mehr Reiz”, sagt der Endsechziger, der am Sonntag als Premierengast der Fotografengespräche in der Buchhandlung Isensee anschaulich erläuterte, warum nicht Worpswede, sondern Tschernobyl das Fotothema seines Lebens geworden ist, eben genau das Gegenteil von Idyll.

Zum 20. Jahrestag der Reaktorkatastrophe war Lubricht 2006 erstmals in die Ukraine gereist – mit einem mulmigen Gefühl und allen guten Wünschen seines Umfelds im Gepräck. Dennoch habe er sich nicht groß medizinisch durchchecken lassen, vorher nicht und nachher ebenso wenig. Fotografen, die das Besondere zeigen wollen, sind immer auch Hasardeure, das wird bei den Erzählungen schnell deutlich. Lubricht hat in den verlassenen Dörfern, in Schulen und Kindergärten, im Wald und auch im Reaktor selbst fotografiert. “Die Bedenken waren immer dabei”, räumt er ein. Darüber hinweg gesetzt hat er sich Mal für Mal.

Besonders eindrucksvoll sind die Aufnahmen der Menschen, die in der Sperrzone verblieben. Fast alle sind alt, gegen sie gehen die Behörden, die Jüngeren den Zutritt verwehren, nicht mehr vor. Und wenn dennoch mal ein Kind auf einem Foto zu sehen ist, dann stellt sich schnell heraus, dass es gar nicht dort sein dürfte. Die Bilder sind von einer kaum beschreibbaren Eindringlichkeit. Lubricht porträtiert die Menschen – viele sind die einzig verbliebenen in ihren Dörfern – als Gratwanderer zwischen Hoffnungslosigkeit und Überlebenswillen. Nicht weniger bedrückend sind die Bilder der Liquidatoren, also der “Helfer”, die ins Katastrophengebiet abkommandiert wurden, um die Dinge zu regeln. Einige wenige haben ihren Einsatz überlebt. Stolz zeigen sie noch einmal ihre Orden.

Die Besucher der Matinee lauschten den Berichten Lubrichts mit großer Aufmerksamkeit, machten eifrig von der Möglichkeit des Nachfragens Gebrauch und dankten ihm mit lang anhaltendem Beifall. Ein gelungener Auftakt der Fotografengespräche, die am nächsten Sonntag mit dem Thema Sportfotografie ihre Fortsetzung finden werden.

 

Claus Spitzer-Ewersmann

Claus Spitzer-Ewersmann

Ohne Claus Spitzer-Ewersmann würde die World-Press-Photo-Ausstellung in Oldenburg wohl kaum Station machen. Der Agenturchef gab 2015 den Anstoß, die Bilderschau in seine Heimatstadt zu holen und freut sich noch immer, dass die Idee auf fruchtbaren Boden fiel und weiterhin auf großen Zuspruch beim Publikum stößt.

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