Ingmar Björn Nolting

Die Gesichter einer Krise

Ingmar Björn Noltings Foto-Essay „Neuland“ dokumentiert die Pandemie in Deutschland

Der Politiker im Zentrum des Bildes niest brav in die Armbeuge, zieht aber dennoch die Aufmerksamkeit der Umsitzenden auf sich. Die leicht erschrockenen Blicke seiner Kollegen bestätigen, was die Masken in den Gesichtern einiger Anzugträger ohnehin schon verraten: Dieses Bild stammt aus der Zeit der Corona-Pandemie. Die Masken gehören inzwischen wie selbstverständlich zu unserem Alltag, ebenso Kontaktbeschränkungen, leere Innenstädte und Besuchsverbote. Die Pandemie verändert das Land – ein junger Fotograf porträtiert die Gesellschaft im Ausnahmezustand.

Das Bild des niesenden Parlamentariers ist Teil des Foto-Essays „Neuland“ von Ingmar Björn Nolting. Der 25-jährige freie Fotograf begab während des ersten Lockdowns auf eine Reise durch die ganze Bundesrepublik, um die Auswirkungen der Pandemie auf die Menschen zu dokumentieren. Stolze 9.000 Kilometer legte er dabei bis heute zurück, arbeitete unter strengen Sicherheitsvorkehrungen und neuartigen Bedingungen. Die Fotos, die auf seiner Reise entstanden sind, zeichnen ein beklemmendes Bild von einem Land, das nur scheinbar stillsteht. Und sie beweisen: Die Ausnahmesituation hat viele Gesichter.

Trügerische Stille

Einige der Fotos deuten nicht im Geringsten auf die unmittelbaren Bedrohungen einer globalen Pandemie hin. Im Gegenteil: Das Ehepaar, das auf einer malerischen Wiese auf seinen Blasinstrumenten spielt, könnte auch auf einer Ansichtskarte abgebildet sein. Die Szenerie suggeriert Entschleunigung und Ruhe. Nichts weist auf die Krankheit hin, die uns vor ungeahnte Herausforderungen stellt. Es ist erst das Wissen über Kontaktbeschränkungen, Social Distancing und Infektionsschutz, welches die Bilder in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Das Ehepaar musiziert normalerweise nicht auf der Wiese, sondern zwischen Freunden. Da dies nun nicht mehr möglich ist, weichen die Musiker auf andere Orte aus, um sich einander dort wenigstens etwas näher zu fühlen.

Ebenso zwanglos erscheint das Bild der beiden Spaziergänger, die über einen Wanderpfad schlendern. Die Frau läuft ohne Schuhe über den Waldboden, sie und ihr Begleiter haben es offenbar nicht eilig. Ein sommerlicher Spaziergang eben. Wo ist die Unsicherheit, die im Frühjahr allgegenwärtig war? Was ist mit der Angst und den Sorgen angesichts der außergewöhnlichen Lage? Hat das Bild wirklich etwas mit alldem zu tun? Die Antwort ist ja, denn die Pandemie bedeutet für viele eine Zwangspause. Entschleunigung wider Willen, während der normale Alltag pausiert. Die Ruhe in den Bildern hat einen beklemmenden Beigeschmack – in einigen Motiven ist die Einsamkeit unübersehbar.

Ingmar Björn Nolting

Fronten der Krise

„Neuland“ verheimlicht die erschreckenden Seiten der Pandemie nicht. Lange Reihen aus mobilen Krankenhausbetten in einer gigantischen Lagerhalle, der ungeschönte Einblick in ein Patientenzimmer und Zahnärzte in aufwendiger Schutzkleidung. Das sind die Schauplätze der Krise, an denen gehandelt werden muss – und zwar schnell. Politiker treffen folgenschwere Entscheidungen, während Mediziner bis über die Belastungsgrenze hinaus arbeiten und Vorbereitungen für den Ernstfall treffen. Diese Bilder sind in ihrer Wirkung weniger subtil als die des musizierenden Ehepaars oder der Spaziergänger, denn wir sehen ungefiltert das, was die Krise so beängstigend und bedrohlich macht.

Das Besondere an Ingmar Björn Noltings Langzeitprojekt ist, dass niemand vergessen wird. Die Krise trifft alle Schichten der Gesellschaft, sie zwingt zu Lösungswegen und drastischen Änderungen im Alltag. Der Politiker muss genauso mit der Ausnahmesituation umgehen wie das junge Liebespaar, die alleinstehende Seniorin und der Wohnungslose.

Der junge Leipziger stellt verschiedene Blickwinkel und Herangehensweisen dar, die ein bewegliches Mosaik aus individuellen Wegen der Anpassung zeichnen. Es ist eindrucksvoll, wie nah er den Fotografierten dabei kommt und mit welchem Geschick er die Stimmung im Land einfängt, für die es noch keine prägnante Beschreibung zu geben scheint. Denn das, was sich gerade in Deutschland und der Welt abspielt, hat so schließlich noch niemand erlebt. Es ist für alle „Neuland“.

Autorin: Hannah Lindemann

 

Am 25. Februar um 19 Uhr berichtet Ingmar Björn Nolting im Kulturzentrum PFL über seine Arbeit. Der Eintritt kostet 5 Euro, die Karten sind im Vorverkauf in der Buchhandlung Isensee erhältlich.

Außerdem ist Ingmar Björn Nolting am 24. Februar um 19 Uhr im Schlosssaal Gast bei der Diskussion zum Thema „Fotografie der Pandemie – Was wollen wir zeigen, was wollen wir sehen?“. Die Anmeldung zur Veranstaltung ist auf unserer Website möglich.