Im Herbst 2019 reiste die ungarische Fotografin Esther Horvath in die Arktis und dokumentierte dort die MOSAiC-Expedition des Alfred-Wegener-Instituts (AWI). Mit ihrem Foto zweier Eisbären, die sich neugierig dem Forschungsschiff MS Polarstern nähern, gewann sie im aktuellen World-Press-Photo-Wettbewerb den 1. Preis in der Kategorie „Umwelt“. Im Interview spricht die Wahl-Bremerin über ihre Zeit an Bord – mit besonderen Kamelen, Gourmet-Pappkartons und einem Gemälde von Rembrandt.
Esther, du hast eine sehr besondere Beziehung zur Arktis. Wie ist sie entstanden?
2015 reiste ich im Auftrag des Audubon-Magazin an Bord des Eisbrechers Healy in den Arktischen Ozean, um die Forschungsarbeit der US-Küstenwache zu dokumentieren. Während dieser Expedition verliebte ich mich völlig in die wunderschöne Umgebung. Ich verbrachte schlaflose Nächte an Deck, fasziniert von der Aussicht. Nach meiner Rückkehr beschloss ich, meine dokumentarische Fotografie auf Forschungsreisen im Arktischen Ozean zu konzentrieren. Wir alle wissen, dass das Eis dort schmilzt, aber wer sind die Wissenschaftler*innen, die uns diese Informationen liefern? Wie arbeiten und leben sie an einem der entlegensten Orte der Welt? Ich möchte ihnen und ihrer Arbeit ein Gesicht geben. Das ist es, was mich antreibt.
Wie hast du dich auf die MOSAiC-Expedition an Bord der MS Polarstern vorbereitet?
Die gesamte Crew musste einige Sicherheitstrainings für die unterschiedlichsten Notsituationen durchlaufen. Eine der größten Gefahren auf einem Schiff ist das Feuer. Deshalb haben wir ein intensives Feuerlöschtraining absolviert. Ich habe noch nie etwas getan, das körperlich so anstrengend war. Im Falle eines Brandes an Bord muss man möglicherweise das Schiff verlassen. Daher hatten wir auch ein Überlebenstraining auf See: im Dunklen ins Wasser springen, rundherum helle Blitze, laute Geräusche, starker Wind. Um dieses Training zu dokumentieren, musste ich eine Schwimmweste anziehen, weil ich an einen Punkt kam, an dem ich das Gefühl hatte, mit der Unterwasserkamera in der Hand zu ertrinken. Und auch das Überleben außerhalb des Schiffes wurde trainiert.
Wie genau lief das ab?
Wir hatten ein spezielles Polar-Überlebenstraining auf Spitzbergen in der Arktis. Für die Offiziere der Polarstern war es obligatorisch, ich durfte es auf freiwilliger Basis absolvieren. Nach einem Schiffsalarm mussten wir uns mit Rettungsbooten ans Land bringen und dort nur mithilfe einer Rettungsbox für ca. 60 Stunden überleben. Wir hatten kein Trinkwasser dabei, sondern mussten Eis schmelzen. Es gab kein Essen, nur diese Überlebenskekse, die wie ein Gourmet-Pappkarton schmeckten. (lacht) Wir mussten rund um die Uhr Wache halten, denn vor Ort gibt es etwa 3.000 Eisbären. Die größte Herausforderung war, dass wir nur fünf Schlafsäcke für 14 Personen hatten. Also schliefen wir in Schichten.
Bist du mit einem fertigen Fotokonzept in die Arktis gefahren?
Ja, denn ich wusste, dass wir nur in der Dunkelheit arbeiten werden. Da wollte ich gut vorbereitet sein. Vor allem, was die Lichtverhältnisse angeht. Vor der Expedition war ich in der Hamburger Kunsthalle, um Inspirationen zu sammeln. Die größte fand ich dabei in einem Gemälde von Rembrandt: Amor mit der Seifenblase. Eine Postkarte dieses Gemäldes nahm ich mit aufs Schiff. Es hing während meines gesamten Aufenthaltes über meinem Schreibtisch. So hatte ich das besondere Lichtspiel immer vor Augen.
Wie entstand das Foto, mit dem du bei World Press Photo gewonnen hast?
Wir waren gerade zurück auf dem Schiff, als die zwei Eisbären aus der Dunkelheit in den Lichtkegel der Polarstern traten. Sie waren einfach neugierig. Schließlich waren wir während unserer Expedition zu Gast in ihrem Land. Ich finde, das macht dieses Foto besonders deutlich. Die Forschung – und auch die Fotografie – an extremen Standorten wird schließlich immer von der Natur, dem Wetter und der Tierwelt diktiert.
Du hast drei Monate in vollkommener Dunkelheit zugebracht. Wie war das für dich?
Ich habe eine solche Finsternis noch nie gesehen, aber sie hat mich begeistert. Es fühlte sich an wie auf dem Mond. Der Himmel war schwarz, als würde man das Universum sehen, und das Eis darunter grau. Wenn ich draußen auf dem Eis stand, hatte ich manchmal das Gefühl, als könnte ich als Nächstes die Erde sehen, wie ich sie vom Mond aus beobachte.
Was hast du während des Aufenthalts in der Arktis am meisten vermisst?
Ich habe mich auf dem Schiff sehr zuhause gefühlt, aber meine Freund*innen und Familie haben mir natürlich gefehlt. Ich konnte zwar über E-Mails und WhatsApp-Nachrichten mit ihnen in Kontakt bleiben, aber die Verbindung war wie ein Kamel – sehr langsam und träge. (lacht) Man konnte nur Textnachrichten senden, die maximal 50 KB groß sind, und keine Fotos verschicken. Das reichte natürlich gar nicht aus, um von all dem zu erzählen, was man täglich an Bord erlebte. Außerdem waren meine Arbeitstage sehr vollgepackt, sodass ich kaum dazu kam, mich zuhause zu melden. Und die Zeitverschiebung hat es nicht besser gemacht. Ich habe aber versucht, meine Familie immer darüber zu informieren, was wir machen und wie es uns geht.
Corona macht Planungen sehr schwer. Hast du trotzdem schon Pläne für 2021?
Ich hoffe natürlich, dass ich in die Arktis zurückkehren kann. Außerdem habe ich kürzlich meinen eigenen Bildband „Expedition Arktis“ veröffentlicht, zu dem es hier in Oldenburg im Mai auch eine Fotoausstellung geben wird. Das ist dann sicherlich eines der Projekte, die mich in diesem Jahr besonders beschäftigen werden. Außerdem werde ich für den kommenden Jahrgang des World-Press-Photo-Wettbewerbs in der (digital tagenden) Jury für die Kategorie „Umwelt“ sitzen – eine für mich völlig neue Herausforderung, auf die ich mich sehr freue!