Ein globales Symbol der Hoffnung

Interview mit dem Fotografen Mads Nissen

Mit seinem Foto The First Embrace“ hat der Däne Mads Nissen die Auszeichnung „World Press Photo des Jahres“ erhalten. Zu sehen ist die 85-jährige Rosa Luzia Lunardi, die von ihrer Krankenpflegerin Adriana Silva da Costa Souza ihre erste Umarmung seit fünf Monaten bekommt. Im Interview erklärt er, wie das Bild entstand und welche Spuren die Corona-Krise in Brasilien hinterließ.

Mads, du hast dein Bild in Brasilien gemacht. Welche Beziehung hast du zu dem Land?

Ich habe mit 18 Jahren im Nachbarland Venezuela gelebt, bin mit einer Kolumbianerin verheiratet und habe zwei Fotobücher über die Region gemacht. In Brasilien sah ich nach Ausbruch der Corona-Krise ein wunderbares Volk, das nicht nur von diesem schrecklichen Virus, sondern auch von der gescheiterten und unverantwortlichen Politik seines eigenen Präsidenten am Boden zerstört war. Deshalb hatte ich einen starken Drang, die Krise auf Augenhöhe zu dokumentieren. Von den Friedhöfen bis zu den Favelas, das Leiden und die Trauer, aber auch die Ausdauer, Hoffnung und Wärme, die in der brasilianischen Kultur so lebendig ist. Ich suchte nach Symbolen und Metaphern, nach der Art von universeller menschlicher Emotion, die Zeit und Ort symbolisiert. Das sind die Bilder, die ich am meisten liebe. Das ist die Fotografie, die mich berührt.

Und so bist du auf diesen „Umarmungsvorhang“ gestoßen …

Ja, eine unglaubliche Erfindung, diese dicke Folie aus durchscheinendem Plastik mit zwei Paar Ärmeln, mit denen sich die Menschen ohne Gefahr einer Infektion umarmen können. So konnten die Bewohner:innen der vormals abgeriegelten Senior:innenheime ihre Familien sehen und umarmen. Für all jene, die keinen Besuch bekommen konnten, sprangen die Mitarbeiter:innen der Heime ein. Denn hier gilt das Motto: „Everyone deserves a good hug“, also „Alle haben eine gute Umarmung verdient“.

Wie ging es dann weiter?

Wir fanden zwei Altenpflegeheime außerhalb von São Paulo, wo das Personal die Vorhänge zum ersten Mal nutzen wollte. Und los ging es. Die Emotionen im ersten Seniorenheim waren stark, aber optisch war es ein Durcheinander, es war zu eng, das Licht schlecht und selbst das Plastik kam auf den Bildern nicht gut zur Geltung. Ich war frustriert. Nah und doch so fern. Etwas desillusioniert fuhren wir zum nächsten Haus. Dort war der Vorhang über der Türöffnung einer Kirche angebracht. Die wunderschöne südamerikanische Sonne schien direkt auf uns, der Hintergrund war dunkel und die Senior:innen, ihre Angehörigen und das Personal waren schon so aufgeregt und neugierig auf das, was sich entwickeln würde. Die älteren Menschen waren fünf Monate lang isoliert und hatten nur sehr begrenzten Körperkontakt. Aber sie wussten, dass sie in wenigen Minuten endlich eine Umarmung bekommen würden.

Wie haben die Menschen auf dich reagiert? 

Sie haben mich gar nicht wahrgenommen. Einige der älteren kamen in Rollstühlen an und wurden am Vorhang herausgehoben. Einige schienen kaum zu verstehen, was vor sich ging oder was ihnen die Pfleger:innen erklärten. Aber als sie aufstanden und umarmt wurden, die Arme sorgfältig um ihren Körper gelegt, scheinen sie alle die Sprache der Liebe zu verstehen. So konnte ich auch das Bild von Adriana machen, die Rosa umarmt. Ich stand einfach nur mit meiner Kamera da, ein bisschen überwältigt. Es war herzerwärmend, diese Liebe und Zärtlichkeit in einem Land mitzuerleben, das während der Pandemie so sehr gelitten hat. Ich wusste, dass ich ausdrucksstarke Bilder geschossen hatte, als ich sie später durchsah. Aber als mir dieses eine Foto in die Hände fiel, berührte es mich extrem. Für einen Moment war da nur… Stille.

Es ist bereits das zweite Mal, dass du die Auszeichnung „World Press Photo des Jahres“ erhältst. Wie fühlt sich das an?

Es ist für mich etwas ganz Besonderes, in einem so bedeutenden Jahr diesen Preis zu gewinnen. Ich fühle mich zutiefst geehrt, für ein Motiv ausgezeichnet worden zu sein, das nicht nur die harte Brutalität der Pandemie zeigt, sondern auch die inspirierende Hoffnung, das Mitgefühl und die Solidarität unter uns allen. Es ist ein Bild für alle Menschen. Denn trotz des großen Leids und Kummers der vergangenen zwei Jahre haben wir die großartige Fähigkeit, zu ertragen, unsere Hoffnung zu bewahren und zu improvisieren. Am Ende bringen Solidarität und Mitgefühl uns alle voran.

 

Mads Nissen ist einer von nur fünf Fotografen, die zweimal die Auszeichnung „World Press Photo des Jahres“ bekamen. 2015 prämierte die Jury bereits Nissens Aufnahme eines homosexuellen Paares in Russland. Im darauffolgenden Februar war er Ehrengast der ersten World-Press-Photo-Ausstellung in Oldenburg. 2022 wird er für die Ausstellungseröffnung zurückkehren.

 

Text: Lena Hofmann