Mein Atem stockt. Einerseits kann ich den Blick nicht lösen, andererseits kann ich gar nicht hinschauen. Ich blicke auf das Pressefoto des Jahres 1997, mein Geburtsjahr. Was ist damals in der Welt passiert? Was hat sich seitdem verändert?
Zerrissene Kleidung, traurige Blicke, ein verstümmeltes Bein – auf diesem Bild schaut man Kindern in die Augen, die in so jungen Jahren schon einen Krieg miterleben mussten. Kindliche Lebensfreude und Leichtigkeit? Keine Spur.
Das Pressefoto des Jahres 1997 hat der italienische Fotograf Francesco Zizola in einem Zentrum für Kinder mit Kriegstraumata in Kuito, Angola aufgenommen. Während des Bürgerkriegs in Angola, der von 1975 bis 2002 andauerte, kam es zu einem wahllosen Einsatz von Landminen durch die Kolonialmächte, Armeen und Freiheitskämpfer. Bis 1997 wurden bereits 70.000 Angolaner:innen, darunter 8.000 Kinder, von explodierten Minen verstümmelt. Das Foto ist Teil von Francesco Zizolas Projekt „Erben des Jahres 2000“, für das er an verschiedene Orte der Welt reiste und Fotos von Kindern machte, um zu erklären, was es bedeutet, an der Schwelle zum dritten Jahrtausend Kind zu sein.
„Für mich sind die Kinder von heute ein dramatisches Symbol für den Menschen, der sich auf sich selbst und seine Beziehung zu unserem Planeten besinnt“ – eine klare Botschaft, die der Italiener vermitteln möchte. „Wir sind die Hüter der Welt unserer Kinder, wir müssen sie geordnet hinterlassen“, appelliert Zizola, der hofft, dass seine Fotos die Menschen zum Nachdenken anregen.
Kinder als Symbol der Zukunft
Nachdem der studierte Anthropologe einige Jahre in einem Fotostudio arbeitete, entschied er sich 1986 dazu, Fotojournalist zu werden. Sein Fokus liegt auf sozialen und humanitären Themen, auf den großen Konflikten der Welt und auf den so häufig von den Mainstream-Medien vergessenen Krisen und relevanten Themen.
„Gibt es ein besseres Symbol für die Zukunft als ein Kind?“, fragt Neil Burgess, Gründer der Fotoagentur Magnum Photos London, der Vorsitzender der World-Press-Photo-Jury 1997 war. Die Jury hat sechs Tage lang auf über 35.000 Bildern das Weltgeschehen im Jahr 1996 betrachtet und sich dann für ein Foto entschieden, das seiner Meinung nach nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft widerspiegelt.
25 Jahre später schaue ich auf das Bild und es besteht für mich kein Zweifel daran, dass es zum Nachdenken anregt. Wenn ich meinen Blick dann auf das gegenwärtige Weltgeschehen richte, die Fotos aus dem aktuellen World-Press-Photo-Jahrgang betrachte, frage ich mich allerdings, ob die Menschen damals einfach weggeschaut haben. Warum haben sie ihre Verantwortung nicht begriffen? Haben sie sich denn nicht ein einziges Mal ein bisschen darum bemüht, eine geordnete Welt für künftige Generationen zu hinterlassen?
Bilder aus einer anderen Zeit
Als ich durch den Katalog von 1997 blättere, scheint die Welt auf den ersten Blick eine völlig andere zu sein. Analoge Bilder, geprägt von einer starken Körnung, größtenteils schwarz-weiß: für mich, 1997 geboren, eine Welt aus einer anderen Zeit. Im aktuellen Katalog sind hochaufgelöste, digitale Bilder zu sehen, die größtenteils farbig, eher selten schwarz-weiß sind. 1997 war es noch üblich, schwarz-weiß zu fotografieren. Und auch die Körnung ist zur damaligen Zeit der analogen Fotografie geschuldet. Heute sind Körnung und eine schwarz-weiße Farbgebung Stilmittel.
Je länger ich die Bilder meines Geburtsjahrgangs auf mich wirken lasse und die Beschreibungen zu den Fotos lese, desto klarer wird mir, dass das dort abgebildete Geschehen nicht so weit weg von meiner heutigen Welt ist, wie ich zuerst dachte. Eine Unwetterkatastrophe auf Puerto Rico, Präsidentschaftswahlen in den USA, Sieg und Niederlage bei den Olympischen Spiele, Umweltschützer:innen verhindern den Bau einer Umgehungsstraße, eine halbe Million Menschen kämpft in einem Flüchtlingslager ums Überleben, die fundamentalistischen Taliban erobern Kabul – ja, all das hat die Welt schon Mitte der 90er bewegt. Und wieder frage ich mich: Haben die Menschen weggeschaut?
Was hat sich verändert?
Beim Vergleich der Ausstellungskategorien beider Jahrgänge fällt direkt auf, dass es die „Harten Fakten“ schon damals gab. Und vielleicht wird es sie auch immer geben.
Ein Wechselbad der Gefühle – das erlebe ich beim Durchblättern beider Kataloge. Ein Abbild davon, wie nah sich doch Höhen und Tiefen des Lebens sind. Letztlich erstaunt es mich, wie viele Krisen und Geschehnisse beide Jahrgänge zeigen, die in keiner „großen“ Schlagzeile erwähnt wurden. Höchst relevante Themen, von den Massenmedien verschwiegen. Ich erkenne, wie wertvoll und wichtig es ist, auch mal einen Blick zurückzuwerfen.
Die Fotografie hat sich verändert, die Probleme dieser Welt nicht. Francesco Zizolas damaliger Wunsch, dass seine Bilder zum Nachdenken anregen, kann ich heute teilen. Beide Ausstellungsjahrgänge machen mich nachdenklich und ich, mittlerweile 24 Jahre alt, frage mich beim Anblick dieser Bilder, wie ich etwas verändern kann. Und ich wünsche mir, dass sich noch mehr Menschen diese Frage stellen.