Irina Unruh

„He liked me, but I did not like him.“

Fotografin Irina Unruh berichtet über die Praxis des Brautraubs in Kirgistan.

Ein Auto hält auf offener Straße, junge Männer springen heraus. Sie schnappen sich eine junge Frau, zerren sie gewaltsam in den Wagen und rasen davon. Eine Entführung. Aber hier wird anschließend nicht über Lösegeld verhandelt. Es geht um einen archaischen Brauch in Kirgistan, „ala katschuu“ genannt. Brautraub. 

„Eine gute Ehe beginnt mit Tränen“, sagt ein kirgisische Sprichwort. Die deutsche Dokumentarfotografin Irina Unruh kennt es gut. Im Alter von neun Jahren immigrierte ihre Familie nach Deutschland. Hier erhielt sie eine akademische Ausbildung und war später als Lehrerin in mehreren Ländern tätig. Während ihres fünfjährigen Aufenthalts in Rom begann sie, ihre Leidenschaft für Fotografie zu erweitern. Sie beschloss, nur noch in Teilzeit als Lehrerin zu arbeiten, und sich als Dokumentarfotografin weiterzubilden. Sie befasst sich heute vorwiegend mit sozialen und ökologischen Themen in Deutschland und ihrem Geburtsland Kirgisistan.

Geschichten von Gewalt und Tränen

Irina Unruh räumt ein, dass sie die Gewalt und die tiefen seelischen Verletzungen hinter dem Sprichwort „Eine gute Ehe beginnt mit Tränen“ zunächst nicht gesehen habe. „Das habe ich erst erkannt, als ich Djamila traf“, sagt sie und fährt fort: „Sie ist nach der Hauptfigur aus der weltweit bekannten Novelle von Tschingis Aitmatov benannt.“ Es ist die Geschichte zweier junger Liebender, die ihr Dorf verlassen und eine starke Tradition brechen, um zusammen zu leben – eine Geschichte, die mit Melancholie und voller Zärtlichkeit von der Kraft der Liebe erzählt, die alles überwindet. Aber Unruh weiß: „Unzählige Geschichten von kirgisischen Frauen sind Geschichten von Gewalt und Tränen.“

Brautraub gilt im zentralasiatischen Kirgistan seit 2013 als Straftat und kann mit bis zu zehn Jahren Freiheitsentzug bestraft werden. Dennoch werden nach Angaben von kirgisischen Nichtregierungsorganisationen jährlich rund 15.000 Frauen entführt, um sie zwangsweise zu verheiraten. Mit ihrer Fotoserie „Ich bin Djamila“ versucht Irina Unruh zu zeigen, dass sich hinter den Zahlen Individuen befinden. „Ich traf Frauen unterschiedlichen Alters und aus verschiedenen Teilen Kirgistans, jede hat ihre eigene Geschichte.“ Eines haben sie alle gemeinsam: Sie erlebten „ala katchuu“.

Psychischer Druck durch die Familie

Eine der Frauen sagt: „He liked me, the man who kidnapped me, but I did not like him.“ Das Martyrium kommt meist am helllichten Tag und in aller Öffentlichkeit. Eine Gruppe junger Männer schnappt sich eine junge Frau oder sogar eine Schülerin, zerrt sie gewaltsam in ein Auto und fährt davon, egal ob sie in Panik ist, sich sträubt, schreit oder weint. Nach der Entführung wird die junge Frau sofort zur Familie des vermeintlichen Bräutigams gebracht und von dessen weiblichen Verwandten psychischem Druck ausgesetzt. In vielen Fällen vergewaltigt der Bräutigam seine entführte Braut, um sie daran zu hindern, aus Scham zu ihrer Familie zurückzukehren.

Rund die Hälfte der Ehen in Kirgistan beginnt mit einer Entführung. Aber anders als gelegentlich behauptet, handelt es sich um keine althergebrachte Tradition, sondern um eine Praxis, die sich erst nach dem Zerfall der Sowjetunion zu einem massiven Problem entwickelte. „Inzwischen“, verrät Irina Unruh, „wächst der Widerstand und die psychologischen Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft werden zunehmend reflektiert“.

Weitere Informationen:
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Länderreport Kirgistan (bamf.de)
Anja Heifel: „Brautraub in Kirgistan“ (frauenrechte.de)
Edda Schlager: „Verhängnisvolle Tradition“ (qantara.de)

 

Programmtipp

Die in Warendorf lebende Fotografin Irina Unruh wird am Sonntag, dem 12. März, ab 11 Uhr in der Buchhandlung Isensee (Haarenstr. 20) im Rahmen einer Matinee ihre Arbeiten über den Brautraub vorstellen.