Es gibt Versprechen, die man anderen gibt und solche, die man sich selbst gibt. In beiden Fällen sind sie mit Hoffnung verbunden. Denn meist geht es darum, dass sich etwas verbessern soll. Welche Bedeutung in diesem Zusammenhang ein Haarschnitt haben kann, zeigt die argentinische Fotografin Irina Werning.

Im Jahr 2020 ist ein Thema omnipräsent – die weltweite Covid-19-Pandemie. Viele Einschränkungen im alltäglichen Leben sind die Folge. Auch die 12-jährige Antonella aus Buenos Aires ist davon betroffen. Seit Anfang des Jahres sind die Schulen geschlossen, ihr Leben hat sich dadurch grundlegend geändert. Statt mit ihren Klassenkamerad:innen im Präsenzunterricht zu sitzen, muss sie nun allein zu Hause lernen. Dazu fehlt ihr oft die Motivation. Meistens liegt sie daher beim Lernen im Bett, um nicht aufstehen zu müssen. Da Bildung bei ihren Eltern einen großen Stellenwert hat, gibt es zwar ersatzweise Unterrichts- und Lerngruppen über Zoom oder WhatsApp, aber das ist für die Schülerin nicht dasselbe.
Es ist ein Tag im August, als sich die junge Argentinierin selbst ein Versprechen gibt: erst mit Beginn des Präsenzunterrichts wird sie sich das nächste Mal ihre Haare schneiden lassen. Zu dem Zeitpunkt hat sie bereits lange Haare – bis Antonella sie allerdings schneiden lässt, werden sie fast bodenlang sein. Gegenüber Irina Werning sagt sie, dass sie mit ihren Haaren ihren „wertvollsten Schatz“ hergäbe. Dass die Fotografin das junge Mädchen auf diesem Weg begleitet hat, würdigte die Regionaljury für Südamerika im World-Press-Photo-Wettbewerb mit dem ersten Preis in der Kategorie “Fotoserie”.
Langes Haar als Teil der Kultur
Um das Opfer zu verstehen, das Antonella bringen will, muss man zunächst die Bedeutung von langem Haar in Argentinien verstehen. Antonella sagt, ihr Haar war Teil ihrer Identität. Das ist nicht nur dahingesagt. In ihrem Langzeitprojekt „Dear long hair“ („Liebes langes Haar“) hat Irina Werning in einem Zeitraum von über zehn Jahren ganz Argentinien bereist, um Frauen mit auffällig langen Haaren zu fotografieren. Um die Frauen zu finden, organisierte sie sogar Wettbewerbe und verteilte Faltblätter. Im Gespräch mit ihnen fand sie heraus, dass es um weit mehr geht als eine Frisur, ein Schönheitsideal oder einen Trend.
Die Wurzeln der Bedeutung von langem Haar liegen in der Kultur und den Traditionen indigener Völker Argentiniens. Das Haar zu schneiden ist hierbei gleichzusetzen mit einem symbolischen Beschneiden des freien Denkens. Auch kann es bedeuten, in Ungnade zu fallen oder sogar dem Tod nahe zu sein. Ist langes Haar in westlichen Kulturen also oft „nur“ ein Symbol für Weiblichkeit und Schönheit, ist es für die Urbevölkerung Argentiniens verbunden mit tiefem Glauben und Überzeugungen, die seit hunderten Jahren bestehen.

Neue Frisur für einen neuen Lebensabschnitt
Mit diesem Wissen lässt sich erahnen, wie belastend die Zeit für Antonella gewesen sein muss. Ohne Schule fehle ein Teil von ihr, erklärt sie der ebenfalls in Buenos Aires lebenden Fotografin. Mit dem Abschneiden ihrer Haarpracht gab sie also einen Teil ihrer Identität her, um einen anderen wiederzuerlangen. Es rührt und ist traurig zugleich, die Verzweiflung einer jungen Schülerin zu begreifen, die sich nach einem Stück Normalität sehnt.
Erst im September 2021 öffneten die Schulen wieder ihre Türen. Antonella löste ihr Versprechen ein und ließ sich am Wochenende vor ihrem ersten Schultag die Haare abschneiden. „Ich fühle mich wie ein anderer Mensch“, sagte sie damals.
Es ist eine Aussage, mit der sich viele Menschen identifizieren können. Die Situation hat sich mittlerweile weltweit erheblich gebessert. Und obwohl die Last der vergangenen Jahre langsam von unseren Schultern abfällt, sind wir von ihr geprägt und fühlen uns anders als zuvor.

Ein Versprechen auf bessere Zeiten
Es ist bemerkenswert, mit nur 12 Jahren ein Versprechen zu geben und dieses nach über einem Jahr auch tatsächlich einzulösen. Hier wird abermals die Bedeutung von langen Haaren in Argentinien deutlich.
Wir alle können etwas davon lernen, wie Antonella mit der Krisensituation umgegangen ist. Mit dem Versprechen hat sie sich Hoffnung geschenkt. Hoffnung darauf, dass diese schwierige Zeit vorüber gehen wird. Von den vielen Geschichten, die durch die Covid-19-Pandemie geschrieben und geprägt wurden, ist diese erfrischend positiv.
Auf dem Foto mit nun erheblich kürzeren Haaren wirkt Antonella selbstbewusst und strahlt Zufriedenheit aus. Es wurde vor der Universität aufgenommen, an der sie später Architektur studieren möchte. Ihre Willensstärke lässt keinen Zweifel daran, dass sie das auch schaffen wird.