Noch stehen die Fotos nebeneinander an die Wand gelehnt. Millimetergenau misst Rafael Heygster die Abstände zwischen den Bildern aus, bevor er sie behutsam aufhängt. Alles soll genau passen, wenn die ersten Besucher eintreffen. Rafael macht dies nicht zum ersten Mal – die Fotografien des Hannoveraners stoßen international auf Anklang. Die Auszeichnung durch das 6×6 Global Talent Program der World Press Photo Foundation ist dafür ein eindrucksvoller Beweis. Warum einfühlsames Fotografieren so wichtig für ihn ist – und wie sein Weg zum Erfolg auch durch Oldenburg führte.

Die Bilder, die in der Bauwerkhalle am Pferdemarkt in Oldenburg nach und nach an der Wand platziert werden, haben keinen aufwändigen Rahmen, die Farben sind dunkel gehalten. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, stellen sie Menschen hautnah dar und erzählen intensive Geschichten. Der Verein „Haus der Fotografie“ in Oldenburg zeigt Rafaels neue Ausstellung, für die er ehemalige Bewohner der Langzeitpsychiatrie Blankenburg fotografierte. Hier lebten ab 1957 bis zur Auflösung der Einrichtung im Jahr 1988 chronisch psychisch kranke Menschen. Der Fotograf berichtet, wie er vor etwa zwei Jahren das erste Mal von der Psychiatrie am Stadtrand von Oldenburg hörte. „Ich war total schockiert, als ich erfuhr, wie in unserer Gesellschaft bis vor 30 Jahren Menschen mit Beeinträchtigung behandelt wurden“, erzählt er. „Die Zustände in Blankenburg waren menschenunwürdig“.
Mit Geduld zum Bild
Deshalb ist es ihm besonders wichtig, die Geschichten der Menschen, die er für seine Arbeit traf, angemessen darzustellen. Der Titel des Projekts „Würde wahren“ ist nicht nur eine Überschrift, sondern auch Grundsatz und Leitfaden für seine Fotografie. Bei vielen Besuchen lernte der 30-jährige die früheren Bewohner kennen und verbrachte meist viel Zeit mit ihnen, bevor das passende Bild entstand. Nicht alle Portraitierten konnten sprechen, und nur einige verstanden, was Rafael mit der Kamera in der Hand vorhat. Der Beziehungsaufbau erfolgte dabei manchmal ganz ohne Worte, die Fotografierten reichten ihm die Hand. Es ist Rafael wichtig, Vertrauen aufzubauen. „Ich wollte die Menschen nicht einfach nur fotografieren, sondern ihnen dabei Respekt zollen. Dazu habe ich viel beobachtet.“
So erkannte er auch Horst Ziebarths Vorliebe für das Konsumieren und neue Gegenstände. Der ehemalige Blankenburg-Bewohner zog mit Freuden regelmäßig durch Geschäfte, um neue Kleinigkeiten zu erwerben. Die unterschiedlichen Persönlichkeiten zu verstehen half Rafael dabei, die Portraits mit Leben zu füllen. Mit einem anderen früheren Bewohner, Willi Fliedl, fand der Fotograf eine ganz andere Art der Interaktion. Er brachte ihm ebenfalls eine Kamera mit, die Fliedl mit viel Neugier begutachtete und prompt einem Test unterzog. Die munteren Selbstportraits, die dabei entstanden, haben nun ebenfalls ihren Platz in der Ausstellung. Sie bringen den Betrachter zum Schmunzeln. Und zum Nachdenken, denn man betrachtet nicht nur ein verschmitztes Gesicht, sondern einen Menschen mit Lebensfreude, Individualität – und einer tragischen Geschichte.

Talentschmiede im Norden
Die aktuelle Ausstellung ist nicht Rafaels erster Besuch in Oldenburg. Bereits 2018 war er auf Einladung Teil des Rahmenprogramms der World-Press-Photo-Ausstellung, die seit 2016 jährlich von der Agentur Mediavanti gezeigt wird. Auf einer Sonntagsmatinee stellte er Auszüge aus seinen Projekten vor. Der Kontakt zu Mediavanti blieb erhalten, ein Teil des Teams besuchte den jungen Fotografen in seiner Wahlheimat Hannover, wo er an der Hochschule studiert.
Der Studiengang „Fotojournalismus und Dokumentarfotografie“ ist weltweit einer der renommiertesten seiner Art, in jeden Jahrgang schaffen es nur wenige ausgewählte Bewerber. Wer hier aufgenommen wird, gehört zu den besten jungen Pressefotografen der Welt. Das spiegelt sich in internationalen Auszeichnungen wider – bei den großen Wettbewerben der Profis gehören die Studenten regelmäßig zu den Preisträgern. So gewann Rafael mit verschiedenen Projekten bereits internationale Aufmerksamkeit.
In die Sammlung an Auszeichnungen reiht sich nun auch die Auswahl für das 6×6 Global Talent Program ein. Dafür bestimmte die World Press Photo Foundation 2019 zum zweiten Mal jeweils sechs Fotografie-Talente aus sechs Erdteilen. Das Besondere: Die Fotografen können sich nicht selbst auf die Auszeichnung bewerben. Stattdessen schlagen Nominatoren aus aller Welt junge Hoffnungsträger vor, die daraufhin zunächst ein Portfolio ihrer Arbeit einreichen.
Plötzlich Preisträger

Für Rafael kam die Nominierung durch die Stern-Bildredakteurin Stephanie Harke unerwartet. „Ich war total überrascht, habe mich aber sehr gefreut.“ Sein Portfolio beinhaltete Bilder aus dem Projekt „Würde wahren“ und aus der Fotoreihe „I Died 22 Times“. Darin behandelt er wirkungsvoll den kulturellen Umgang mit dem Krieg außerhalb von realen Schlachtfeldern. Die Scouts der World Press Photo Foundation belohnten seine Leistungen und wählten ihn als einen der sechs Preisträger Europas aus. Eine Ausstellung im Iran, die die Werke Rafaels und anderer Gewinner zeigen sollte, konnte dieses Jahr nicht stattfinden. Dennoch profitieren die Ausgewählten durch einen Beitrag im Witness-Magazin der World Press Photo Foundation sowie durch weltweite Beachtung. Das bedeutet: noch mehr internationale Aufmerksamkeit, noch mehr Aufträge, noch mehr Präsenz in der Fotografie-Szene. Für Rafael ist dennoch klar: Mit seiner Arbeit will er weiterhin Menschen eine Stimme verleihen und Missstände in unserer Gesellschaft aufzeigen – und damit den kleinen Geschichten eine große Bühne geben.
Autorin: Hannah Lindemann