Amber Bracken

“Wenn wir etwas ändern wollen, müssen wir die Wahrheit kennen.”

Fotografin Amber Bracken über ihr Weltpressefoto des Jahres 2022

Zum dritten Mal seit 1993 (Larry Towell) und 2005 (Finbarr O’Reilly) geht der Preis für das „Pressefoto des Jahres“ nach Kanada. Anders als ihre Vorgänger, die Geschehnisse in Palästina und dem Niger abbildeten, widmete sich Amber Bracken einem Ereignis im eigenen Landund zwar einem, das in Kanada viel Staub aufwirbelte. Wie es dazu kam, berichtet die Fotografin im Interview.

Amber, viele deiner Fotoreportagen zeigen die indigene Bevölkerung Nordamerikas. Wie kam es zu diesem Schwerpunkt?

Auslöser war ein Projekt namens „Generations“. Als ich 2015 begann, daran zu arbeiten, lernte ich gerade erst, was es heißt, freie Fotografin zu sein. Dieses Projekt hat mein Leben verändert. Ich dachte, dass ich eine Kurzreportage über indigene Rap-Kultur mache, aber stattdessen entwickelte sich die Arbeit daran zu einer Langzeitstudie über ein generationenübergreifendes Trauma und dessen Heilung. „Generations“ hat meine berufliche und persönliche Laufbahn geprägt und mich zu weiteren Reportagen über indigene Communities geführt.

Zum Beispiel über den Bau der Dakota Access Pipeline und die Folgen für die indigene Bevölkerung vor Ort. Im World-Press-Photo-Wettbewerb 2017 wurdest du für diese Reportage ausgezeichnet.

Richtig, denn mein Fokus rund um die Themen Kolonialisierung, Ethnien und Umwelt hat sich recht schnell herausgebildet. Ich interessiere mich für systematische Ungerechtigkeiten und habe den Drang, darüber zu berichten. In Kanada geht die Ungleichbehandlung in der Gesellschaft viel zu oft zu Lasten der indigenen Bevölkerung. Manchmal führt eines meiner Projekte auch wie von selbst zum nächsten.

In diesem Jahr bist du erneut im World-Press-Photo-Wettbewerb vertreten, diesmal als Fotografin des Weltpressefotos des Jahres. Wieder geht es um ein Thema in der indigenen Bevölkerung Kanadas.

Richtig, mein Foto zeigt ein Denkmal im westkanadischen Ort Kamloops. Es erinnert an 215 indigene Kinder der Secwépemc, die an der Kamloops Indian Residential School zu Tode gekommen sind. Ihre Gräber wurden erst vor kurzem bei Bodenuntersuchungen entdeckt, ihr Verschwinden war bis dahin ungeklärt. Die kanadische Regierung hat über viele Jahrzehnte im ganzen Land Internate finanziert, an denen rund 150.000 indigenen Kindern gezielt der christliche Glaube anerzogen werden sollte. Sie erfuhren dort Gewalt und Vernachlässigung. Viele starben, allein 4.000 Todesfälle wurden von der 2015 ins Leben gerufenen Truth and Reconciliation Commission dokumentiert. Viele weitere tausend Gräber wurden seitdem gefunden.

Ein schwieriges Thema, das mit viel Feingefühl fotografiert werden musste …

Ja, es war sehr herausfordernd, in einer Zeit zu fotografieren, in der die Secwépemc-Community in so großer Trauer ist. Ich suchte nach einem Weg, dieses wichtige Thema zu zeigen, ohne mich voyeuristisch auf das Leid einer einzelnen Person zu stürzen. Die vielen Kreuze und Kleider, die alle ungetragen bleiben werden, führte mir die schiere Anzahl an toten Kindern vor Augen. Das Denkmal macht zugleich sichtbar, was noch im Verborgenen liegt: Das Schicksal vieler weiterer tausend Kinder im ganzen Land, die nie aus den Residential Schools zurückkehrten.

Wir sehen hölzerne Kreuze, an denen Kleider hängen. Was ist die Bedeutung dahinter?

Das für Weiße wohl offensichtlichste Symbol sind die Kreuze, denn sie haben eine religiöse Konnotation und sind in der westlichen Welt zugleich als Zeichen für eine Grabstelle bekannt. Aber es steckt so viel mehr dahinter: Snutetkwe Manuel gehört zur indigenen Secwépemc-Community und ist eine Nachfahrin derer, die die Residential School überlebt haben. Sie hat dieses Denkmal geschaffen und möchte das Schicksal der Kinder sichtbar machen – aber nicht durch die Kreuze. In den Lehren der Secwépemc heißt es, dass Kinder aus den Sternen zu uns kommen und ihre Seelen nach dem Tod wieder dorthin zurückkehren. Die Kleidung an den Kreuzen ist ein Geschenk, das die Kinder nach Hause begleiten soll – zurück in die Sterne.

Woher wusstest du von dem Denkmal?

Ich war in Kontakt mit einer indigenen Journalistin aus der Region. Sie half mir bei der richtigen Herangehensweise an die trauernde Community und stellte den Kontakt zu den Ältesten der Secwépemc her. Ich wusste bereits durch die Fotos anderer Fotograf:innen, dass es dieses Denkmal gibt, aber da sie alle einen eher kleinen Bildausschnitt gewählt hatten, dachte ich, es handelt sich nur um ein paar Kreuze. Erst als ich selbst dort eintraf, realisierte ich, dass es eine lange Reihe aus Kreuzen ist und es sehr schwierig werden würde, mehrere aufs Bild zu bekommen.

Wie hast du dich auf dieses Foto vorbereitet? Hattest du ein bestimmtes Motiv im Kopf?

Das Denkmal steht entlang einer vielbefahrenen Straße, mit einem sehr steilen Hang auf der anderen Seite. Es brauchte ein paar Tage, bis ich wusste, wie ich über die Straße gelangen konnte, ohne einen Zusammenstoß mit einem Auto zu riskieren. Ich hätte es aus nächster Nähe fotografieren können, aber der Bildausschnitt gefiel mir nicht. Ich wollte eine Reihe Kreuze zeigen. Ich war im Gespräch mit Matt Casimir, einem Überlebenden der Kamloops Indian Residential School, und er zeigte mir einen Pfad, den die Secwépemc nutzen, um die Straße zu überqueren. Ich traf Matt kurz vor Sonnenuntergang, um mit ihm gemeinsam zum Denkmal zu gehen. Als wir die Straße mit den Kreuzen erreichten, behielt er den Verkehr im Auge, während ich fotografierte.

Neben den Kreuzen sehen wir am Horizont einen Regenbogen – Zufall?

Ja, tatsächlich war es ein Zufall, der das Bild am Ende so vollkommen, so perfekt erscheinen lässt. Es war ein regnerischer Tag, doch als ich mein Foto machen wollte, brach plötzlich die Sonne zwischen den Wolken hervor. Goldenes Licht breitete sich aus und der Regenbogen traf genau dort auf den Boden, wo die Gräber der Kinder gefunden worden waren. Es war ein besonderer Moment und ich tat mein Bestes, ihn einzufangen. Insgesamt habe ich etwa 60 Fotos gemacht.

Warum sollten die Menschen dein Foto und damit die Geschichte dahinter kennen?

Residential Schools und die Zwangsassimilierung indigener Menschen sind das Fundament für Generationen voller Leid. Wenn wir etwas ändern wollen, dann müssen wir die Wahrheit kennen und uns mit den Konsequenzen unserer eigenen Geschichte konfrontieren. Wir alle haben bis heute eine Beziehung zum Kolonialismus. Besonders diejenigen unter uns, deren Vorfahren von ihm profitiert haben, müssen besser verstehen, damit sie in Zukunft besser handeln können.

Wie reagierten die Secwépemc darauf, dass dein Foto den World Press Photo Award gewonnen hat?

Als ich den Anruf bekam, begleitete ich gerade eine indigene Delegation nach Rom, um den Papst um eine offizielle Entschuldigung an die Opfer zu bitten. So konnte ich der Ältesten Roseanne Casimir persönlich erzählen, dass mein Foto gewonnen hat. Sie freute sich darüber, dass das Denkmal und damit auch die Geschichte dahinter im Wettbewerb berücksichtigt wurde, aber ihre Gedanken waren natürlich hauptsächlich bei den Kindern. Ich weiß nicht, wie jede:r Einzelne:r in der Community über die Auszeichnung denkt, meine Gespräche mit einigen von ihnen waren jedoch ambivalent. Viele finden es verletzend, wenn Menschen sich nur auf das Foto als ästhetisches Objekt fokussieren und es gar als „schön“ bezeichnet wird. Natürlich finden sie es gut, dass durch mein Foto die ganze Geschichte rund um die toten Kinder mehr Aufmerksamkeit in den Medien bekommt. Aber es ist noch so viel zu tun und für diejenigen, die nah am Geschehen sind, ist ein Sieg in einem Fotowettbewerb weit von den wichtigen Dingen des Lebens entfernt.

Ist deine Arbeit über die Opfer der Kamloops Indian Residential School nun beendet?

Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Ich habe keine direkte Folgegeschichte in der Community der Secwépemc geplant, aber jede einzelne indigene Person in Kanada ist in irgendeiner Form vom System der Residential Schools betroffen. Also geht es am Ende in jedem meiner anderen Projekte, die sich mit indigenen Communitys beschäftigen, doch auch wieder darum. Ich fokussiere mich auf die Auswirkungen von generationsübergreifenden Traumata und will zeigen, wie junge indigene Menschen auf unfaire Weise mit den Nachwehen, die aus diesen Assimilierungseinrichtungen erwachsen, ihr Leben lang belastet werden. Ich bin außerdem sehr interessiert daran, wie sich die Nutzung und Beanspruchung von Land mit Identität verweben, insbesondere mit einer Identität des Weißseins. Ich möchte noch mehr auf Kolonialisierung schauen, weil es auch bei nicht-indigenen Menschen und früheren Kolonialmächten noch immer ein Thema ist. Zurzeit arbeite ich an einem Projekt über Identität, erzählt anhand meiner eigenen Familiengeschichte.

 

Fotografin Amber Bracken wird ebenso wie Snutetkwe Manuel, eine der Initiatorinnen des Mahnmals in Kamloops, zur Eröffnung der World-Press-Photo-Ausstellung am 11. März nach Oldenburg kommen. Ab 10.15 Uhr werden sie im Schlosssaal über die Hintergründe ihrer Arbeit berichten. Der Besuch ist im Eintrittspreis zur Ausstellung enthalten.