Romain Laurendeau

Aufstand einer verlorenen Generation

Preisträger Romain Laurendeau zeigt die Menschen hinter der Revolution in Algerien.

Ein Paar küsst sich in der Öffentlichkeit, obwohl es in diesem Land als Tabu gilt. Ein junger Mann lässt sich ein verbotenes Tattoo stechen. Jugendliche brüllen in einem Fußballstadion politische Parolen in die Menge. Mit seinen eindrücklichen Schwarzweißaufnahmen aus Algiers Arbeiterviertel Bab el-Oued zieht der Fotograf Romain Laurendeau die Betrachtenden in seinen Bann. 

Ein junges Paar küsst sich am Strand von Algier.

„Man fühlt sich, als werde man in die Szene hineingezogen und sei selbst vor Ort, mitten im Geschehen“, lautete das Urteil der Jury, als sie die Reportage des Franzosen im aktuellen Wettbewerb als World Press Photo Story des Jahres auszeichnete. Laurendeau zeigt algerische Jugendliche, die sich frustriert an den Rand der Gesellschaft flüchten – und dokumentiert damit eines der Symptome der seit Jahren herrschenden Unzufriedenheit im Land.

Eine Gruppe junger Männer sieht zu, wie einer von ihnen mit einer Trompete experimentiert. Sie wissen alle nicht, wie man dieses Instrument spielt, schauen aber begeistert zu.

Eine Jugend ohne Träume

Mehr als die Hälfte der algerischen Bevölkerung ist unter 35, fast dreiviertel davon arbeitslos. Als er 2014 nach Algier kam, traf Romain Laurendeau auf gelangweilte Jugendliche, die auf den Straßen der Hauptstadt herumlungerten. „Sie hatten keine Träume, keine Perspektive“, erinnert er sich. „Es war unmöglich für mich, in diesen jungen Menschen nicht mich selbst zu sehen. Ich hätte schließlich einer von ihnen sein können, wäre ich zufällig in diesem Land geboren worden.“ Der aus Frankreich stammende Fotojournalist arbeitete fünf Jahre lang an einer Langzeitreportage, die durch die immer wieder aufflammenden Proteste gegen das korrupte Regime bis heute nichts an ihrer Aktualität verloren hat – denn vor allem die junge Bevölkerung leidet: „Die Menschen hier sind ermüdet von der politischen Situation. Sie möchten einfach leben und arbeiten wie alle anderen auch.“ Doch die Regierung kümmert sich nicht darum, die hohe Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, investiert wenig in die Bildungseinrichtungen des Landes.

Ein paar Freunde haben sich zum Fernsehen in ihr selbstgebautes Diki zurückgezogen.

Ein paar Stunden Freiheit

Die Jungen flüchten sich tagsüber gern in sogenannte Dikis – improvisierte Rückzugsorte, oft versteckt in verlassenen Häusern. Hier können sie unbefangen und frei sein, gut versteckt vor den strengen Vorschriften, die in diesem Land gelten. Romain Laurendeau begleitete Algeriens verlorene Generation mit der Kamera, folgte den Jugendlichen durch ihren Alltag – und wurde nach und nach einer von ihnen. Er habe versucht, unsichtbar zu werden und auf eine sanfte und respektvolle Weise zu fotografieren, erzählt er. „So konnte ich die echten, unverstellten Momente festhalten, ohne die Intimität der Situation zu zerstören.“ An manchen Tagen entstanden so mehrere hundert Fotos. Vor allem in den Fußballstadien entlud sich die Frustration der jungen Männer, die den Lärm um sich herum nutzten, um ungehindert die in der Öffentlichkeit verbotenen politischen Schlachtrufe hinauszuschreien.

Ein umstrittener Machthaber

Als Algeriens altersschwacher Präsident Abd al-Aziz Bouteflika im Februar 2019 nach zwanzigjähriger Amtszeit eine erneute Kandidatur ankündigte, folgten landesweite Massenproteste. Die Bevölkerung hielt den 83-Jährigen bereits seit Jahren für die falsche Besetzung an der Spitze des Landes. Den Kolonialismus habe man zwar offiziell hinter sich gelassen, aber dafür einen hohen Preis gezahlt, hieß es aus den Reihen der Protestierenden. Die Regierung fuße ihr Tun weiterhin auf Korruption und Machtgier und verliere dabei das Wohl der Bevölkerung aus den Augen. Vor allem die Jugend forderte einen Wandel im Land, Algeriens Universitäten wurden zum Zentrum des Widerstands. Am 29. März 2019 gingen in der Hauptstadt Algier einige hunderttausend Menschen in friedlichen Protesten auf die Straße und erwirkten schließlich, dass Bouteflika sich aus dem Amt zurückzog.

Ein erster Schritt

Seit Beginn der Massenaufstände gegen die alte Ordnung wurden zahlreiche Persönlichkeiten aus Politik und Militär wegen Korruption und Veruntreuung vor Gericht gestellt. Doch die Demonstrierenden wollen mehr: Sie kritisieren, dass sich der neue Präsident Abdelmadjid Tebboune nicht stark genug vom etablierten System seines Vorgängers entfernt habe, und kämpfen weiterhin Woche um Woche für Veränderung. Doch es ist noch ein weiter Weg bis zum lang ersehnten politischen Umbruch. Das weiß auch Romain Laurendeau: „Meine fotografische Arbeit ist ein erster, kleiner Schritt. Aber es braucht viele weitere, um die Situation in diesem Land grundlegend zu verändern.“