Julius Schien

Der Alltag als Tatort

Julius Schien hat Orte rechter Gewalt in ganz Deutschland fotografiert.

Die Amadeu Antonio Stiftung zählt in Deutschland aktuell 219 Todesopfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung, hinzu kommen 16 Verdachtsfälle (Stand 10. Dezember 2021). Für seine Reportage „Rechtes Land“ hat der Fotojournalist Julius Schien viele dieser Orte besucht. Seit 2021 sind so Aufnahmen von rund 90 dieser Orte entstanden.

Julius, wie hast du die genauen Orte gefunden, an denen rechte Gewalttaten stattfanden?

Julius Schien: Die Chronik der Amadeu Antonio Stiftung war ein guter erster Anlaufpunkt, denn sie listet weitaus mehr Fälle auf als die offizielle Statistik der Bundesregierung. Die genauen Tatorte herauszufinden hat aber oft weitere Recherchearbeit erfordert. Ich habe viel Netzrecherche betrieben, alte Zeitungsartikel gelesen, mich mit Initiativen kurzgeschlossen oder Akteneinsicht beantragt. Manchmal kam ich mit Menschen vor Ort ins Gespräch, die zufällig wussten, wo sich das Verbrechen ereignet hatte. Manche kannten die Hintergründe der Taten, andere hatten hingegen kein rechtes Motiv im Kopf und waren überrascht, als ich ihnen davon erzählte.

Julius Schien

NÜRNBERG – 09-06-2005. İsmail Y. betreibt einen beliebten Imbiss in der Südstadt Nürnbergs. Die Täter der rechtsextremen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) fahren am Morgen des 9. Juni 2006 mit Fahrrädern in die Nähe des Imbisses, betreten diesen und ermorden İsmail Y. mit fünf Schüssen in den Kopf und Oberkörper. Er stirbt noch am Tatort. Während der Mordserie des NSU ermittelt die Polizei fast ausschließlich im Umfeld der Opfer, nicht aber in rechtsextremen Kreisen, bis sich der NSU schließlich 2011 selbst enttarnt.

Warum hast du dich entschieden, die Tatorte zu fotografieren, statt andere Aspekte des Themas in den Fokus zu stellen, etwa das Leben der Hinterbliebenen?

Schien: Mir war es wichtig, eine Darstellungsform zu finden, mit der ich stringent alle Fälle aufarbeiten kann und in der sich eine gewisse Serialität einstellt. Mein Ziel war und ist es, „vergleichbare“ Fotos von allen Orten anzufertigen. Oft gibt es zu weniger bekannten oder älteren Fällen weniger Aufzeichnungen. Ich wollte diesen Schicksalen ebenso viel Raum und Wichtigkeit einräumen. An die Orte der Geschehnisse zu reisen und diese unter vordefinierten Gesichtspunkten zu fotografieren, war für mich das Naheliegendste. Auch weil mich vor allem interessierte, wo diese Verbrechen überall stattfanden und ob wir uns der Bedeutung dieser Orte im Alltag überhaupt bewusst sind.

Wie ist es für dich, selbst an einem Ort zu stehen, an dem jemand aus politischen Motiven ermordet wurde?

Schien: Meistens bin ich ein bis zwei Tage vor Ort und setze mich nochmal sehr intensiv mit dem Fall und der Umgebung auseinander. Dadurch hat man immer im Hinterkopf, warum man gerade da ist. Ich lese mich in die einzelnen Schicksale ein, skizziere den Ort mit einer Digitalkamera und mache eine Vorauswahl von Bildern. Ich überlege mir, welches Licht ich für die Aufnahme will, ob ich früh morgens, in der Mittagssonne oder spät abends fotografieren möchte. Letzten Endes belichte ich zwei oder drei Großformat-Negative. Mich wühlt es immer wieder aufs Neue auf, diese Orte zu besuchen und so viel Zeit dort zu verbringen. Oft sind es wahnsinnig alltägliche Umgebungen, in denen brutalste Gewaltverbrechen stattfanden – das geht mir nahe.

Julius Schien

LEIPZIG/AMMELSHAIN – 08-05-1996 Mit den Worten „Hau ab, du schwule Ratte!“ wird Bernd G. nachts in Leipzig-Wahren auf offener Straße von drei Neonazis attackiert und niedergestochen. Sie schlagen G. auf offener Straße zusammen, treten auf ihn ein, werfen einen Ziegelstein auf seinen Kopf, stopfen ihm Sand in den Mund und stechen 36-mal mit einem Messer auf ihn ein. Den leblosen Körper werfen sie in einen gefluteten Steinbruch außerhalb von Leipzig.

Was sagt die Banalität der Tatorte über unsere Gesellschaft aus?

Schien: Einerseits zeigt es, dass wir deutschlandweit ein immer noch sehr großes Problem mit Rechtsextremismus haben und eben auch, dass diese Form von Gewalt erschreckend „normal“ ist. Andererseits sagt es glaube ich auch viel über unsere Erinnerungskultur und über die Art und Weise aus, wie die Gesellschaft mit Opfern rechter Gewalt umgeht. Negativ-Beispiele hierfür finden sich in der neueren deutschen Geschichte immer wieder, etwa darin, dass während der Mordserie des NSU-Komplexes fast ausschließlich im familiären Umfeld der Opfer ermittelt wurde. Unser Umgang mit diesen Verbrechen zeigt, dass wir nicht gerne genauer hinsehen, was da passiert.

Was die Tatorte anbelangt, gibt es, bis auf wenige offizielle Mahnmale, nur ein paar vereinzelte Gedenkplaketten, die von Bürgerinitiativen durchgesetzt und meist eigenständig finanziert wurden. Ganz oft gibt es aber auch einfach gar nichts, was an diese Schicksale erinnert. Das zeigt meiner Meinung nach, dass wir uns als Gesellschaft vielleicht nicht daran erinnern wollen. Dass wir versagt haben und dass wir rechtes Gedankengut in Deutschland immer wieder hochkommen lassen. Dass wir und unsere Politiker:innen dahingehend immer noch wahnsinnigen Nachholbedarf haben.

Julius Schien

ARNSTADT – 18-01-1992 Karl S., Parkwächter im Schlosspark Arnstadt, wird am 18. Januar 1993 von fünf jungen Neonazis verprügelt und getötet. Die Gruppe im Alter von elf bis 16 Jahren demoliert zuvor im Schlosspark eine Toilette. Als Karl S. das bemerkt, geht er ihnen nach und ermahnt sie. Daraufhin gehen die Jugendlichen auf ihn los und schlagen auf ihn ein, bis er bewusstlos am Boden liegen bleibt. Anschließend schleifen sie ihn auf die viel befahrene Bahnhofstraße. Dort wird er von mehreren Autos überfahren. Am selben Abend erliegt er seinen Verletzungen. Zwei Angreifer werden zu Haftstrafen von drei Jahren und neun Monaten verurteilt.

Du hast bereits kurz angesprochen, dass laut offizieller Statistik der Bundesregierung die Zahl der Todesopfer rechter Gewalt um einiges geringer ist als laut Amadeu Antonio Stiftung. Woher kommt diese Diskrepanz?

Schien: Ein Grund dafür ist, wie die Fälle durch die Behörden erfasst werden. Das Bundeskriminalamt erhebt die Daten nicht selbst, sondern bekommt sie aus den Bundesländern, also vom jeweiligen Landeskriminalamt. Bei politisch motivierter Kriminalität handelt es sich um eine sogenannte Eingangsstatistik. Das heißt, dass die Straftaten bereits mit Aufnahme der polizeilichen Ermittlungen bewertet und gegebenenfalls als politisch rechts motiviert eingestuft werden. Zeigt sich der politische Hintergrund erst zu einem späteren Zeitpunkt der Ermittlungen oder während des Gerichtsprozesses, sollten diese Taten eigentlich nachgemeldet werden. In der Realität passiert das aber oft nicht.

Wie viel Wahrheit steckt in deinem provokanten Projekttitel „Rechtes Land“?

Schien: Ich finde den Titel nicht sonderlich provokant und glaube auch nicht, dass Deutschland im Ganzen ein „rechtes Land“ ist. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass Deutschland ein Problem mit Rechtsextremismus hat. Vor allem in den letzten Jahren wurde das immer wieder sehr deutlich. Ich glaube, dass diese Tatorte, die ich für die Arbeit besuche, zu einer gewissen Zeit definitiv rechtes Land waren. Manche sind es vielleicht heute noch.

Julius Schien wird seine Arbeit „Rechtes Land“ am 5. März 2024 um 19 Uhr in einem Vortrag vorstellen. Der Vortrag findet im cine k (Bahnhofstraße 11) statt. Eintrittskarten können ab sofort online über Eventbrite erworben werden.