“Die Welt der Bilder muss Grenzerfahrungen zulassen”

Diskussion darüber, wo die Pressefotografie ihre Grenzen hat

Bei der Diskussion zum Thema „Die Grausamkeit der Geste“ diskutierten im NWZ-Pressehaus der Intendant des Oldenburgischen Staatstheaters Christian Firmbach, der Leiter des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Prof. Dr. Rainer Stamm und NWZ-Chefredakteur Lars Reckermann.

Moderator Dr. Rainer Lisowski eröffnete die Diskussion mit dem Siegerfoto von Burhan Ozbilici, das die Ermordung des russischen Botschafters in Ankara zeigt.

Laut Lars Reckermann wurde in der NWZ-Redaktion hitzig diskutiert, ob das Foto vollständig abgedruckt werden sollte oder nicht. In der ursprünglichen Meldung am Tag nach dem Attentat veröffentlichte die NWZ eine beschnittene Version, auf der die Leiche nicht zu sehen war.

Als es zum Pressefoto des Jahres gekürt wurde, druckte die NWZ das Original ab. Heute sei Reckermann sich nicht mehr sicher, ob es die richtige Entscheidung war, das Bild zunächst beschnitten zu zeigen.

Prof. Stamm sprach sich dafür aus, Bilder grundsätzlich unverändert zu zeigen. Das sei für ihn nicht nur eine Frage des Urheberrechts: „Wir können ein Bild nicht einfach beschneiden, nur um ein Problem zu umgehen.“

Wie weit darf Bildbearbeitung gehen?

Als 2014 ein Passagierflugzeug über der Ukraine abgeschossen wurde, veröffentlichte die BILD-Zeitung ein bearbeitetes Foto des Wracks: Die Leiche eines Passagiers wurde aus dem Bild herausgeschnitten – zurück blieb eine weiße Fläche, die die Leiche ebenso deutlich zeigte.

Lars Reckermann kritisierte das: „Ich kann ein Bild durchaus beschneiden oder verpixeln. Durch die weiße Fläche aber richte ich den Blick des Betrachters trotzdem auf die Leiche. Die erklärende Bildunterschrift fügt das Opfer außerdem verbal wieder ins Foto ein.“

Für Prof. Stamm ist die Veränderung eines Pressefotos immer auch eine urheberrechtliche Frage. „In diesem Moment entstehen zwei Bilder: das des Fotografen, und das veränderte Bild der Redaktion.“

Auf die Frage hin, ob er als Museumsdirektor ein umstrittenes Bild bewusst aus einer Ausstellung ausschließen würde, reagierte Stamm mit deutlichen Worten: „Nein, da bin ich absolut dagegen.“

“Kunst oder die Welt der Bilder muss Konflikte, muss Zerreißproben, muss Grenzerfahrungen zulassen.“ (Prof. Dr. Rainer Stamm)

Im Kontext einer Ausstellung bekämen Pressebilder eine ganz andere Wirkung, so Firmbach: „Sie entwickeln eine Kraft, die man nicht einfach überblättert wie in einer Zeitung. Es sind Kunstwerke, deren Aussagen wesentlich wirkungsvoller zu sein scheinen als der tägliche Beschuss durch die Medien.“

Ob ein Pressefoto für eine Theaterproduktion zitiert werden sollte, müsse man in jedem Fall genau abwägen, denn oft handele es sich dabei um „billiges Effekthaschen“. Auch der voyeuristische Faktor dürfe nicht außer Acht gelassen werden. Denn letztlich sei die Frage, ob das Foto eines Toten abgedruckt werden dürfe, auch immer eine Frage der Menschenwürde.

Anders sah das Lars Reckermann. Der NWZ-Chefredakteur betonte, dass ein Pressefoto zunächst einmal alles zeigen dürfe, denn es sei die Aufgabe eines Fotojournalisten, Zustände zu dokumentieren. Was letztlich gedruckt wird, müsse dann die Redaktion entscheiden. Er selbst hält 360°-Aufnahmen und Bilderstrecken für die ehrlichste Art der Pressefotografie, denn sie bieten dem Betrachter ein umfassenderes Bild.

„Was ich erzählen will, kann ich häufig auch ohne das Zeigen von Leichen ausdrücken.“ (Christian Firmbach)

Dokumentation ja, Inszenierung nein

In einem Punkt waren sich aber alle Diskutierenden einig: Solange es der Dokumentation eines Ereignisses dient, ist es grundsätzlich legitim, ein Bild zu zeigen. Handelt es sich allerdings um eine bewusste Inszenierung, ist die Situation eine andere. Zeitungen müssen mehr denn je aufpassen, durch das Abdrucken inszenierter Bilder nicht an Glaubwürdigkeit zu verlieren, so Reckermann.

Dieser Meinung ist auch Rainer Stamm. Sobald sich Ursache und Wirkung umkehren und ein Foto bewusst inszeniert wird, wie es zum Beispiel bei Hinrichtungen des IS der Fall ist, sollte man diesem keine Plattform bieten.

Die Frage, ob Institutionen sich in Zeiten von Social Media einen neuen Umgang mit Bildern aneignen müssten, verneint der Museumsdirektor. Die Menschen seien mit der technischen Entwicklung mitgewachsen und dadurch auch kritischer geworden. „Wir müssen nicht erziehen, sondern wir mischen uns in den großen Bilderstrom ein. Wir zeigen, was uns in dieser Zeit wichtig erscheint.“ Auch Intendant Christian Firmbach bestätigt, dass sich unser ästhetisches Verständnis und unsere Sehgewohnheiten weiterentwickelt haben. Am Ende des Tages bleibe die Verbindlichkeit der Bildsprache jedoch unverändert.

Durch die Flut an Bildern, die im Internet kursieren, stehen Nachrichtendienste vor einer zusätzlichen Herausforderung: Sie müssen das Bildmaterial filtern. „Wir entscheiden permanent, was wir Ihnen vorenthalten, um andere Inhalte vorzuziehen,“ erklärte Lars Reckermann. Prof. Rainer Stamm knüpfte daran an und appellierte am Ende des Abends nicht nur an die Zuhörer im Publikum. „Wir wählen den ganzen Tag aus, was wir für die gesellschaftliche Diskussion relevant halten. Keiner verlangt, dass Sie diese Auswahl toll finden. Aber nutzen Sie doch die Chance, sie anzusehen und sich Ihre eigene Meinung zu bilden.“

 

Foto: Torsten von Reeken