Im World-Press-Photo-Wettbewerb 2023 tragen vier der 29 prämierten Projekte den Titel „… of the Year“: das Foto, die Fotoserie, die Langzeitreportage und das Offene Format des Jahres. Ein Überblick.
Mariupol Maternity Hospital Airstrike © Evgeniy Maloletka, Associated Press
„Luftangriff auf die Geburtsklinik von Mariupol“ von Evgeniy Maloletka
Das „World Press Photo of the Year“ ist erneut eines, das um die Welt ging. Es zeigt die 32-jährige Ukrainerin Iryna Kalinina, die verletzt auf einer Trage liegt, die Hand schützend auf ihren Bauch gelegt, der Blick leer. Eine Gruppe Männer trägt sie durch die Trümmer von Mariupol, weg von der Geburtsklinik, die bei einem russischen Luftangriff zerstört wurde. Ihr Sohn Miron, ukrainisch für „Frieden“, wird totgeboren. Iryna selbst stirbt eine halbe Stunde später.
Der ukrainische Fotojournalist Evgeniy Maloletka ringt nach Worten, wann immer er in Interviews über sein Foto spricht. „Es ist das Bild, das ich am meisten vergessen möchte“, gibt er bei der Preisverleihung in Amsterdam offen zu. „Aber ich kann es nicht. Und ich darf es nicht.“ Zu wichtig sei das Schicksal der Menschen in der Ukraine, zu wichtig seine Arbeit als Fotojournalist.
Im März 2022 war Maloletka einer der wenigen, die die Ereignisse in der ostukrainischen Hafenstadt Mariupol dokumentierten. Nur ein paar Wochen waren seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs vergangen. „Wir kamen in Mariupol an, eine Stunde später begann dort die Invasion. 20 Tage lebten wir mit Sanitätern im Keller eines Krankenhauses, und in Notunterkünften mit Bürgern, um die Angst zu zeigen, mit der die Menschen dort lebten.“
Das Foto steche als zutiefst schmerzhafter historischer Fakt heraus und zeige den Mord an zukünftigen Generationen von Ukrainer:innen, so die Begründung der Jury. Sie hob auch die Hartnäckigkeit des Fotografen hervor, trotz enormem emotionalem Druck und unmittelbarer Lebensgefahr weiterzuarbeiten.
„Der Preis des Friedens in Afghanistan“ von Mads Nissen
Die „World Press Photo Story of the Year“ zeigt den neuen Alltag in Afghanistan, nachdem sich die NATO-Truppen im August 2021 zurückgezogen und die Taliban wieder die Macht übernommen hatten. Schätzungen zufolge leben 97 Prozent der afghanischen Bevölkerung inzwischen unter der Armutsgrenze und sind von Hunger bedroht. Es scheint fast, als habe es die 20 Jahre währenden Friedensbemühungen im Land nie gegeben.
Mads Nissens Fotoserie ist gefüllt mit berührenden Einzelschicksalen, die stellvertretend für das große Ganze stehen: Da ist der 15-jährige Khalil, der für 3.500 US-Dollar seine Niere verkaufen musste, um seine Familie vor dem Verhungern zu retten. Der kleine Hojatullah, der mit gerade einmal 11 Monaten schon schwer unterernährt ist, und seine Mutter Nafisa, die selbst nicht genug zu essen hat, um ihren Sohn ausreichend zu stillen. Frauen und Kinder, die vor einer Bäckerei nach Brot betteln. „Meine größte Hoffnung ist es, mit dieser Arbeit nicht nur ein Bewusstsein zu schaffen, sondern ein Sich-Beschäftigen“, erklärt Nissen. „Millionen von Menschen in Afghanistan sind in diesem Moment verzweifelt auf Essen und humanitäre Hilfe angewiesen.“
Die Jury lobte die Reportage des dänischen Fotojournalisten und mehrfachen World-Press-Photo-Preisträgers als „eine wahrlich außergewöhnliche Arbeit, weil sie so viele Ebenen des Lebens unter Talibanherrschaft abdeckt“. Die Fotos zeigten das Versagen der US-amerikanischen Friedensbemühungen in Afghanistan und wie es sich auf die Menschen vor Ort auswirke, so die einhellige Meinung der Jurymitglieder.
„Misshandelte Gewässer“ von Anush Babajanyan
Zugang zu Wasser dominiert das Leben in immer mehr Binnenstaaten der Erde. Die vier zentralasiatischen Länder Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan und Kasachstan konkurrieren um die gemeinsamen Wasservorräte. Der Klimawandel trägt zur Verschärfung der Situation bei.
In der „Long-Term Story of the Year“ dokumentiert Anush Babajanyan das Leben der Menschen am Toktogul-Reservoir, entlang des Naryn-Flusses und anderer Wasserwege, die durch die Dürren der letzten Jahre zu versiegen drohen. Das lebenswichtige Gut so einteilen, dass für alle genug übrig bleibt – dieser Gedanke beherrscht seit Jahren den Alltag der Menschen hier. „Wasser ist eng mit ihrem Leben verflochten. Und das verändert sich, weil sich das Klima verändert“, beschreibt die armenische Fotografin. „Die Menschen hier passen sich daran an. Diese beeindruckende Willensstärke wollte ich einfangen.“ Sie sei froh über die Auszeichnung im World-Press-Photo-Wettbewerb, da sie die Geschehnisse so einem größeren Publikum zugänglich machen könne, denn: „Über Ereignisse aus Zentralasien wird noch immer nicht genug berichtet.“
„Eine visuell starke Arbeit, die sich eingehend mit einer komplexen, vielschichtigen Geschichte über die Folgen des Klimawandels in Zentralasien befasst“, lautet das Urteil der Jury. Dabei verzichte Anush Babajanyan auf regional geprägte Klischees und schaffe eine weiche Verbindung zwischen Ländern, die alle durch dieselbe Herausforderung geeint werden. „Das Projekt ist visuell wunderschön, dynamisch und zeigt eine durchdachte Fotoreihe mit einem starken Anfang und einem starken Abschluss.“
„Hier kennen die Türen mich nicht“ von Mohamed Mahdy
Die Bewohner:innen von Al Max, einem Fischerort im ägyptischen Alexandria, haben seit Generation am Mahmoudiyah-Kanal gelebt. Sie fuhren mit ihren Booten raus aufs Mittelmeer und verdienten sich ihren Lebensunterhalt als Fischer. Doch nun sollen sie aus Al Max weichen. Den Ort verlassen, der für sie Heimat bedeutet. Die Regierung begann 2020, die Menschen in Wohnblocks zu bringen, die mehrere Kilometer vom Kanal entfernt liegen. Gründe für die Zwangsumsiedlung seien der steigende Meeresspiegel und die Notwendigkeit der Stadterneuerung.
Der Visual Storyteller Mohamed Mahdy thematisiert im „Open Format of the Year“ den Verlust kollektiver Erinnerung und kultureller Identität. Die Bewohner:innen erzählten ihm, dass sie früher Liebesbriefe oder letzte Worte per Flaschenpost erhielten, die ans Ufer des Kanals gespült wurden. Mahdy rief die Bewohner:innen auf, nun ihre eigenen Briefe zu schreiben und damit für künftige Generationen ein Archiv aus Erinnerungen zu schaffen. Die Ergebnisse hat Mahdy zu einer interaktiven Website mit dem Titel „Here, the Doors don’t know me“ gebündelt. Besucher:innen können ebenfalls eine Botschaft an die Bewohner:innen von Al Max hinterlassen und so einen Kommunikationsweg in die Außenwelt öffnen.
Die Jury zeigte sich beeindruckt von der gründlichen Recherche Mahdys und lobte die ganzheitliche Story, in der Betrachter:innen die Situation in Al Max nicht nur visualisieren, sondern auch damit interagieren können. Sie ergänzt: „Die nahtlose Verbindung von Fotos, Audios, handgeschriebenem Text, Karten und Zeichnungen hebt die ohnehin exzellente Bildauswahl zusätzlich hervor.“