Frank van Beek, ANP

So nah, dass einem fast der Atem wegbleibt

Stephanie Harke über ihre Arbeit in der World-Press-Photo-Jury

Als freiberufliche Bildredakteurin und Fotografin arbeitete die Braunschweigerin Stephanie Harke bereits für eine Vielzahl renommierter Auftraggeber. Ihr spezielles Interesse gilt dem Bildjournalismus und der Dokumentarfotografie. Zuletzt wurde sie für ihre Arbeit „Bettschuhe“ mit einem Sonderpreis beim Wettbewerb „Desideria Care Preis für Fotografie 2022 – Demenz neu sehen“ ausgezeichnet. 2022 war sie Mitglied der europäischen Jury bei World Press Photo.

Frau Harke, wie sieht ein solcher Juryprozess bei mehreren Zehntausend Fotos aus?

Zunächst wurde die Gruppe aus fünf Jurymitgliedern für die Region Europa ausführlich in den Prozess von World Press Photo eingeführt. Dazu gehörte zum Beispiel, daran zu erinnern, keine Stereotypen zu stärken oder bei der Auswahl der Bilder die Würde fotografierter Menschen zu achten. Das ist besonders wichtig, wenn es um Minderheiten, verletzte Menschen oder auch Tote geht. Wir in der europäischen Jury haben in mehreren Durchgängen die Einreichungen gesichtet, die in Europa aufgenommen wurden. Das waren ca. 25 000 Bilder von insgesamt ca. 65.000 Einreichungen weltweit.

Das ist wirklich viel …

Im ersten Durchgang haben wir die Bilder teilweise nur nach visueller Qualität bewerten können, da keine Bildinformationen oder Namen zu den Fotos herausgegeben wurden. In der zweiten Runde wurden Nationalität, Standort und Geschlecht des Fotografen oder der Fotografin angegeben. In der dritten Runde gab es dann die Informationen zu den Einzelbildern oder Reportagen. Über den gesamten Zeitraum wurde die Anonymität der Fotografen gewahrt.

Fand diese Auswahl als Präsenzveranstaltung statt?

Wegen Corona haben wir alles per Videokonferenzen diskutiert. Wir haben uns nach jeder Runde virtuell getroffen und abgestimmt. Ich fand es etwas schade, dass wir nicht real zusammenkommen konnten, da sich über Video sicherlich nicht genauso gut diskutieren lässt wie gemeinsam an einem Tisch. Der gesamte Prozess zog sich über einen Zeitraum von sechs Wochen, bis die Gewinner durch die globale Jury feststanden.

Was hat speziell diesen Jahrgang ausgezeichnet?

Zunächst einmal der neue Juryprozess und die neuen Formate, die ausgezeichnet wurden. Jede Region hat vier Kategorien bewertet: Einzelbilder, Geschichten, Langzeitprojekte und das Open Format, das auch künstlerische Projekte berücksichtigt. Ich persönlich begrüße es, dass es nur noch vier Kategorien gibt und dass nun auch Projekte ausgezeichnet werden können, die nicht der klassischen Fotoreportage entsprechen. So konnten wir auch Multimediaprojekte bewerten oder zum Beispiel Jonas Bendiksens Buchprojekt „Book of Vales“, das mit dem Thema Fakenews und Bildmanipulation spielt. Inhaltlich dominierten die Themen Corona, die Folgen des Klimawandels und gesellschaftliche Unruhen. Es ist bemerkenswert, wie am Ende eines Jury-Prozesses eine Essenz der derzeit weltweit aktuellsten Themen übrig bleibt.

Worauf haben Sie selbst bei Ihren Entscheidungen für oder gegen einzelne Fotos besonderen Wert gelegt?

Mir ist es besonders wichtig, dass ich eine individuelle Bildsprache des Fotografen erkennen kann. Die Bilder von Nanna Heitmann zum Beispiel erkenne ich immer wieder, da sie das Talent besitzt, nachrichtenrelevante Reportagen zu fotografieren, die trotzdem auf ihre ganz eigene Art poetisch erzählt werden. Natürlich muss außerdem das fotografische Handwerk beherrscht werden und das fotografierte Thema dem Zeitgeschehen entsprechen. Der Fotograf sollte eine Idee davon haben, ob das Thema gerade wichtig ist oder nicht. Wenn ein Foto qualitativ nicht gut aufgenommen wurde oder ich das Thema genauso schon dutzende Male zuvor gesehen habe, ist es raus.

Den europäischen Wettbewerb für Einzelaufnahmen hat Konstantinos Tsakalidis gewonnen. Was macht seine Aufnahme aus deiner Sicht preiswürdig?

Die Aufnahme von Konstantinos Tsakalidis zeigt eine ältere Frau, die vor ihrem Haus steht und verzweifelt ihre Hand auf die Brust legt, als müsse sie um Atem ringen. Der Mund ist geöffnet, die Augen geschlossen. Im Hintergrund lodern Flammen, die wohl bald auch ihr Haus erreichen werden. Die Fotografie ist rötlich vom Feuer gefärbt. Dieses Bild zeichnet aus, dass man als Betrachter sofort in die Szene eintauchen kann. Das Leid der Frau, die kaum Luft zu bekommen scheint, fühlt sich beim Betrachten so nah an, dass einem fast selbst der Atem wegbleibt. Hier wird in einem Bild eine ganze Geschichte erzählt, das macht es zum Hingucker.

Sie sind selbst als Bildredakteurin und Fotografin tätig. Was würden Sie Fotografinnen oder Fotografen raten, die bei World Press Photo Aufnahmen einreichen wollen?

Als Fotografin sollte ich mir die Frage stellen, welche Geschichte ich erzählen möchte und wie ich diese in meiner eigenen Weise fotografieren kann. Wie kann ich diese Geschichte erzählen, wie unterscheidet sich meine Art der Erzählung von anderen? Außerdem sollte das Thema natürlich etwas mit dem derzeitigen Geschehen in der Welt zu tun haben, denn es ist der World Press Photo Award, bei diesem stehen nun einmal die Bereiche Fotoreportage, Dokumentation und Nachrichten im Fokus. Wenn der Fotograf oder die Fotografin selbst von der Arbeit überzeugt ist, dann keine Angst vor der Bewerbung. Jede Arbeit wird unter den selben Kriterien begutachtetet, egal ob sie von berühmten Fotojournalisten kommen oder von Studierenden.

Interview: Claus Spitzer-Ewersmann

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