Jedes Jahr Anfang April geht der neugierige Blick der Fotointeressierten nach Amsterdam. Wer wird für das Pressebild des Jahres geehrt, wer liefert die beeindruckendste Story? Welche Geschichten aus aller Welt werden in den folgenden Ausstellungen zu sehen sein? Wie so oft hat sich die Jury auch in diesem Jahr für eine ambitionierte Mischung aus Erwartbarem und Überraschendem entschieden.
Iryna Kalinina hat keine Stunde mehr zu leben, als Evgeniy Maloletka (Foto) die hochschwangere Frau fotografiert. Fünf Männer bringen sie auf einer Trage aus der zerbombten Geburts- und Kinderklinik von Mariupol, einer Stadt am Asowschen Meer. Russische Angreifer hatten Bomben auf das Krankenhaus geworfen und es in ein Trümmerfeld verwandelt. Maloletka dokumentiert die Zerstörung. Seine Aufnahme der mit dem Tod ringenden Iryna und ihres ungeborenen Sohns, der wenig später ebenfalls verstirbt, geht um die Welt – als Symbol des Grauens und Leids.
Absurdität und Horror des Krieges
Ein Jahr später, im April 2023 wird Evgeniy Maloletka mit dem Preis für das Pressefoto des Jahres ausgezeichnet. Als erster ukrainischer Fotograf überhaupt. Für diejenigen, die die Geschichte von World Press Photo kennen, kommt die Entscheidung nicht überraschend. „Die Absurdität und der Horror des Krieges“, von denen die Jury des Wettbewerbs in ihrer Begründung spricht, waren in der Vergangenheit häufig auf den siegreichen Bildern zu sehen.
Und so bitter es klingt: Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine liefert beinahe täglich neue grausame Vorlagen. So sind in der aktuellen Ausstellung neben Maloletkas Serie auch Aufnahmen von Emilio Morenatti und Alkis Konstantinidis zu sehen, die sich mit dem Krieg und seinen Folgen beschäftigen. Manche sind nur schwer zu ertragen.
Alessandro Cinque zeigt eine Alpakazüchterin in Peru, die ein Babyalpaka auf Sommerweide bringt.
Weiterhin ein Thema: der Klimawandel
Ukraine – und was noch? Ein zweites großes Thema des aktuellen Jahrgangs ist wenig überraschend einmal mehr der Klimawandel. Die Fotos dazu kommen von allen Kontinenten und lassen die ganze Dimension des Problems deutlich werden. Hier die Alpakas, die aus dem südamerikanischen Hochland in tiefer gelegene Gebiete umgesiedelt werden müssen. Da austrocknende Flüsse und Seen oder versiegende Oasen.
Also alles negativ und deprimierend? Nein, keineswegs. Mehr als einen flüchtigen Blick wert ist etwa Simone Tramontes Langzeitprojekt „Net-Zero Transition“. Der Italiener zeigt eine Reihe von Projekten in Europa, die helfen sollen, das von der EU ausgerufene Ziel der Reduzierung von Treibhausgasen auf Null zu erreichen.
Oder die zauberhafte Serie „Home of the Golden Gays“ von Hannah Reyes Morales: Die Philippinin stellt darin eine Gemeinschaft älterer LGBTQ-Menschen vor, die seit Jahrzehnten in Manila zusammenleben und sich unterstützen.
Eindrucksvolle Geschichte aus Afrika: Lee-Ann Olwage fotografierte ein “Hexencamp” in Ghana.
Geschichten jenseits der Trampelpfade
Auch wenn die – in jedem Jahr neu zusammengesetzte – Wettbewerbsjury selbstverständlich nicht an den großen Nachrichtenereignissen vorbeischauen kann, sind es doch diese vermeintlich kleinen Geschichten abseits der ausgelatschten journalistischen Trampelpfade, die diesmal wieder den Reiz der World Press Photos ausmachen.
Natürlich wissen wir, dass es queere Senior:innen gibt. Natürlich ist uns klar, dass eine heimtückische Krankheit wie Demenz vor Afrika nicht halt macht. Aber erst der Fotojournalismus haucht den Meldungen aus den Randspalten der Zeitungen Leben ein. Gerade die vor einem Jahr neu entwickelte Strategie, vor der Verkündung der globalen Siegerbilder die besten in sechs Weltregionen zu ermitteln, beschert solch etwas weniger mainstreamigen Geschichten die verdiente Aufmerksamkeit.