Das World Press Photo in der Kategorie „Einzelfoto“ – Afrika zeigt die demenzerkrankte Sugri Zenabu, eine Bewohnerin des Gambaga-„Hexencamps“ in Ghana. Sie ist umringt von Frauen, die ebenfalls hier leben. Im Interview erzählt die südafrikanische Fotografin Lee-Ann Olwage, wie dieses Foto und die dazugehörige Langzeitreportage „The Big Forget“ entstanden sind.
Warum hast du dich für eine Langzeitreportage über Demenz entschieden?
Lee-Ann Olwage: Weil ich eine persönliche Verbindung zum Thema habe: Meine Großmutter war dement und ich sah, wie die Krankheit das stahl, was sie als Mensch ausmachte, und ihre Erinnerungen auslöschte. Ich erfuhr dann von einer Frau namens Ndjinaa, aus der Himba-Community in Namibia. Sie war über viele Jahre in ihrem Dorf angekettet, weil sie seltsames, unberechenbares Verhalten zeigte, das ihre Familie nicht verstand und als Hexerei auslegte. Ich wurde neugierig, wie unterschiedlich Communitys Demenzsymptome wahrnehmen und welche Meinungen sie über die Krankheit haben. Ich entschied, Ndjinaa zu besuchen, um mehr über ihre persönliche Geschichte zu erfahren. Ihre Familie und ihre Community zu treffen und ein besseres Verständnis dafür zu bekommen, wie diese ihre Symptome wahrnahmen.
Wie war dein erstes Treffen mit Ndjinaa?
Olwage: Ich traf die bewusste Entscheidung, dass ich sie zu diesem Zeitpunkt nicht fotografieren wollte. Ich musste zunächst mehr über die kulturellen Auffassungen zu Demenz, Spiritualität, Hexerei und dem Glauben an Übernatürliches lernen, und brauchte lange, um herauszufinden, wie ich diese Geschichte erzählen kann. Nach meiner ersten Reise nach Namibia verbrachte ich eine Menge Zeit damit, zu überlegen, wie ich eine Geschichte abbilden kann, deren Großteil unsichtbar ist. Wie visualisiert man das, was in einem Menschen vorgeht? Seine mentale Landschaft? Wie zeigt man geistige Gesundheit, Aberglauben und die spirituelle Welt? Ich stellte mir all diese Fragen, als ich versuchte, eine geeignete visuelle Sprache zu finden.
Aus einem Besuch bei Ndjinaa wurde schließlich eine viel größere Geschichte…
Olwage: Richtig, hinzu kamen viele weitere Aspekte des Themas. Während meiner Reise in Namibia arbeitete ich mit der 2010 gegründeten Organisation Alzheimer‘s Dementia Namibia (ADN). Das Team stellte mir Familien mit demenzerkrankten Mitgliedern vor. Ich sah, dass diese Menschen auf unterschiedlichste Art behandelt wurden – von einem einzelnen Familienmitglied bis hin zu einem ganzen Dorf, das Teil der Care-Arbeit wurde. Als ich Mitarbeitende aus dem lokalen Gesundheitswesen und traditionelle Heiler:innen traf, sah ich den Einfluss, den sie hatten, und wie sie über mentale Gesundheit sowohl aus spiritueller als auch aus medizinischer Perspektive dachten. Es war der Beginn einer drei Jahre andauernden Reise für „The Big Forget“, die inzwischen Aufnahmen aus Namibia, Ghana und Madagaskar umfasst.
Porträt von Voahangy Rahirisoa (65) in ihrem Zuhause, nachdem sie eine Veranstaltung für ältere Menschen in Antananarivo, Madagaskar besucht hat. Rahirisoa hat Augenprobleme, Bluthochdruck, Diabetes und vermutlich Alzheimer. Sie war bei der Veranstaltung, um sich Hilfe bei ihren Erkrankungen zu suchen. 10. März 2023.
Wie ist es dir gelungen, das Einverständnis der fotografierten Personen einzuholen?
Olwage: Viele verstanden den Grund meines Besuchs nicht. Also erklärte ich Familienmitgliedern meine Idee, und bat sie um Einverständnis. Als Fotografin bin ich sensibilisiert dafür, wann ich die Kamera senken muss, und ich denke, es gibt mehr Fotos, die ich nicht gemacht habe, als Fotos, die ich gemacht habe. Nur, weil du eine Kamera hast, hast du nicht das Recht, sie auch zu benutzen. Du brauchst zudem eine Menge Sorgfalt und Sensibilität, wenn du eine Community dokumentierst, der du selbst nicht angehörst. Du bist die Person im Raum, die am wenigsten über sie weiß.
Dein prämiertes World Press Photo ist im Gambaga-„Hexencamp“ in Ghana entstanden. Kannst du mehr darüber erzählen?
Olwage: Das Camp ist ein von Freiwilligen geführtes Zuhause für demenzerkrankte Menschen. Manche wurden dorthin verbannt, andere flohen selbst ins Camp, um sich vor Anschuldigungen der Hexerei in Sicherheit zu bringen. 95 Prozent von ihnen sind Frauen, manche leben bereits 20 Jahre hier. Die Freiwilligen führen das „Go Home Project“, das die Frauen durch Aufklärungsarbeit vor Ort in ihre Communitys reintegriert. Bei meinem zweiten Besuch im Camp traf ich die ehemalige Bewohnerin Konduug Laar wieder. Inzwischen lebt sie dank „Go Home“ wieder bei ihrer Familie. Das zeigt die Wichtigkeit von Aufklärungsarbeit in den Communitys und von der Zusammenarbeit mit lokalen Stakeholdern wie Ärzt:innen, Pflegekräften und traditionellen Heiler:innen. Sie alle spielen eine elementare Rolle in der Reintegration.
Konduug Laar zeigt Symptome von Demenz. Sie lebte zwölf Jahre im „Gambaga-Hexencamp“ im Norden Ghanas.
Inwiefern?
Olwage: Die Menschen leben länger, werden älter und erkranken damit häufiger an Demenz. Die Anstrengungen, eine Heilung zu finden, werden intensiviert, aber die kulturelle Wahrnehmung von Demenz bekommt nur wenig Aufmerksamkeit. Mancherorts werden Demenzerkrankte weggesperrt, unter starke Medikation gesetzt, gefürchtet oder ausgegrenzt. Weltweit muss noch eine Menge getan werden, um die Erkrankung von Stigmen zu befreien. Ich habe viele Menschen getroffen, deren Hingabe für Demenzerkrankte und ihre Angehörigen mich begeistert hat. Die wahren Veränderungen gehen immer vom Fundament unserer Gesellschaft aus. Diejenigen, die ebenjenes Fundament bilden, können langanhaltende Effekte erzielen.
Was sollten die Besucher:innen der World-Press-Photo-Ausstellung über dein Foto wissen, wenn sie es anschauen?
Olwage: Während meiner Besuche im „Hexencamp“ hatte ich das nagende Gefühl, dass ich nicht die richtige Bildsprache fand. Am letzten Tag fühlte ich noch immer, dass ich es nicht geschafft hatte. Ich ging zurück in den Raum, in dem die Frauen sich zuvor zum Gebet getroffen hatten. Hier entstand schließlich dieses besondere Foto, das von mentaler Gesundheit erzählt, von Gedächtnisverlust, Hexerei und den vielen Frauen, die in den letzten 100 Jahren durchs Camp gingen. In dem Moment, in dem ich dieses Bild schuf, fühlte ich endlich, dass ich nun einen Weg gefunden hatte, all das zu zeigen, was ich durch dieses Projekt gelernt hatte. Durch den World Press Photo Award kann ich dieses Projekt, das mir zutiefst wichtig ist, nun mit einem großen globalen Publikum teilen.
Lee-Ann Olwages prämiertes Foto zeigt Sugri Zenabu, umringt von Bewohnerinnen des Gambaga-„Hexencamps“ im Norden Ghanas.
Ist deine Arbeit an „The Big Forget“ nun abgeschlossen?
Olwage: Nein, daran werde ich in den nächsten Jahren weiterarbeiten, etwa für ein Kapitel zu lokalen Pflegekräften als Aufklärer:innen und zur Spiritualität rund um die Erkrankung. Für den Moment fokussiere ich mich auf Communitys auf dem afrikanischen Kontinent, würde später aber gern darüber hinaus agieren.
Woran arbeitest du außerdem?
Olwage: Ich widme mich zurzeit einer weiteren Langzeitreportage: „The Right to Play“. Darin geht es um Bildungsarbeit für junge Mädchen in Kenia, vor allem zu weiblicher Genitalverstümmelung und Kinderehe. Diese Reportage wird zurzeit im Rahmen der Sony World Photography Awards gezeigt und hat außerdem eine Auszeichnung der International Women in Photo Association (IWPA) erhalten. „The Right to Play“ möchte ich zudem gern als Buch veröffentlichen.
Die südafrikanische Fotografin Lee-Ann Olwage legt ihren Fokus auf Themen aus der Mitte der Gesellschaft. Mit „The Big Forget“ gewann sie im aktuellen World Press Photo Contest in der Rubrik „Einzelfoto“ – Afrika.
Lee-Ann Olwage wird am Samstag, den 17. Februar 2024, um 10 Uhr im Saal des Oldenburger Schlosses zu Gast sein und zur Ausstellungseröffnung von ihrer Arbeit an „The Big Forget“ berichten. Der Zugang zur Veranstaltung ist im regulären Museumsticket enthalten.