Schon immer und überall – protestieren Menschen gegen soziale Ungleichheit, Diskriminierung oder Umweltverschmutzung. In Deutschland haben wir das Thema Protest besonders in diesem Jahr durch internationale Bewegungen wie „Black Lives Matter“ und „Fridays for Future“ verstärkt wahrgenommen. Kein Beleg dafür, dass in 2020 mehr demonstriert wird als je zuvor. Dennoch scheint es so, dass derzeit immer mehr Menschen auf die Straße gehen, um ihre Meinung lautstark zum Ausdruck zu bringen, das Bewusstsein für Protestbewegungen wächst. Das macht auch der aktuelle Jahrgang der World Press Photos besonders deutlich.
Während Demonstrationen von den einen jedoch weiterhin als eine eher übertriebene Form der Meinungsäußerung bewertet werden, andere hingegen an vorderster Front kämpfen, frage ich mich, welchen Platz ich einnehme. Menschen, die sich aktiv für Themen wie Chancengleichheit, Gerechtigkeit oder den Klimaschutz einsetzen, finde ich bemerkenswert. Die Möglichkeit dazu hätte auch ich. Aber tue ich es? Nicht wirklich. Doch woran liegt das?
Ich stelle fest, dass die Informationsbeschaffung über aktuelle Vorkommnisse in meinem Alltag mehr unbewusst als bewusst stattfindet. Es sind die kurzen Nachrichtenposts auf Instagram, die Radiomeldungen auf dem Weg zur Arbeit oder die Zusammenfassung der Tagesnachrichten in der Online-Mediathek. Bin ich ehrlich zur mir selbst, ist all das nur eine sehr oberflächliche Auseinandersetzung mit Ereignissen und Thematiken, durch die eine Meinungsbildung zur Herausforderung wird. Somit liegt das Problem doch eigentlich auf der Hand: Wie soll man sich mit unzureichendem Wissen überhaupt ein Urteil bilden können? Und wie kann man für etwas einstehen, ohne eine Meinung zu haben? Dabei ist der eigene Standpunkt doch der Antrieb, der einen überhaupt erst aktiv werden lässt.
Ein Problem meiner Generation? Für die „Millennials“ – geboren in den frühen 80er- bis Ende der 90er-Jahre – sind Meinungsfreiheit und Demokratie eine Selbstverständlichkeit. Auch wenn wir es zu schätzen wissen: So wie es jetzt ist, war es für uns schon immer. Dafür kämpfen mussten wir nicht, noch nie.
Vier Fotos, vier Länder, ein Thema: Protest
Auf aktuelle Geschehnisse aufmerksam machen und einen Anreiz geben, sich mit Themen auseinanderzusetzten – das bietet jedes Jahr aufs Neue die World-Press-Photo-Ausstellung mit Pressefotografien und Fotoserien aus der ganzen Welt. Vier der in diesem Jahr ausgezeichneten Produktionen haben Momente des Protestes eingefangen.
Dazu zählt auch die Aufnahme des japanischen Fotojournalisten Yasuyoshi Chiba, die zum Pressebild des Jahres gewählt wurde. Es zeigt einen jungen Mann, der im Zuge der Aufstände im Sudan gegen den Langzeitdiktator Omar al-Bashir ein Protestgedicht rezitiert. Es ist dunkel, es ist Nacht. Er ist umgeben von Menschen, die ihre Handylichter während eines Stromausfalls in der Hauptstadt Khartum in die Luft halten. Sein Mund ist weit offen, seine linke Hand liegt auf der Brust. Es wirkt so, als würde er das Gedicht nicht einfach nur vortragen, sondern laut verkünden.
Weiter im Norden Afrikas ist das Bild von Farouk Batiche auf einer regierungsfeindlichen Demonstration in Algerien entstanden. Es zeigt wie Studentinnen und Studenten mit der Bereitschaftspolizei ringen. Betrachtet man einmal die Gesichter der Menschen auf dem Foto genauer, kann man die Angst und die Verunsicherung in ihren Augen sehen. Dennoch stehen sie da, gemeinsam. Gedrängt aneinander mit all ihrer Kraft gegen Korruption, Machtmissbrauch und Unterdrückung.
Singen für den Widerstand
Die Bilderserie des Franzosen Nicolas Asfouri widmet sich den im Sommer 2019 gestarteten Massendemonstrationen gegen die Regierung von Carrie Lam in Hongkong. Menschen versammelten sich, um „Glory to Hong Kong“ zu singen, ein Protestlied, das in der Stadt als inoffizielle Hymne an Popularität gewann. Anlass des Widerstands war ein umstrittener Gesetzesentwurf, der die Auslieferung von Verdächtigen auf das chinesische Festland ermöglicht hätte. Vorangetrieben wurde die Protestbewegung durch das gewaltsame Vorgehen der Polizei gegenüber den Demonstranten und zahlreichen Menschenrechtsverletzungen. Der Grund dafür, dass die Menschen in Hongkong trotz zurückgenommenen Auslieferungsgesetz noch heute protestieren. Sie kämpfen weiterhin gegen die kommunistische Regierung und für ihre Rechte sowie die Aufarbeitung der Gewalttaten während den Ausschreitungen.
Gesungen wurde auch in dem Moment, als Fabio Bucciarelli in Chile auf den Auslöser seiner Kamera drückte. Anlass des Protestes sind hier die vorherrschenden sozialen und wirtschaftlichen Missstände. Zu sehen sind Frauen, die das Lied „Un Violador en tu Camino“ („Ein Vergewaltiger auf Ihrem Weg“) angestimmt haben. Ihre geballten Fäuste ragen in die Luft. Sie tragen rote Schals, Lippenstift sowie eine Augenmaske, als Symbol der sexuellen Straftaten gegen weibliche Demonstranten durch Sicherheitskräfte und Solidarität gegenüber Opfern der Polizeigewalt. Ein Moment voller Willenskraft und Entschlossenheit.
Auch wenn die Fotografien aus vier unterschiedlichen Ländern stammen und sich die Forderungen und Umstände unterscheiden, habe all diese Menschen auf den Bildern gehandelt und nicht stillgestanden. Sie haben auf ihren Unmut aufmerksam gemacht und ihre Position lautstark vertreten.
Alles kann, nichts muss!
Ich bewundere alle die, die für ihre Rechte einstehen, sich Themen intensiv annehmen und die eigene Überzeugung öffentlich zum Ausdruck bringen. Und mir erscheint es so, dass ein bewusstes Befassen mit Themen und Ereignissen dabei hilft zu beurteilen, ob etwas der eigenen Ansicht nach richtig oder falsch ist. Nur so kann wiederum die eigene Positionierung klarer werden. Es soll nicht bedeuten, dass diese immer aktiv vertreten werden muss und jeder protestieren sollte. Nein, es geht vielmehr um die eigene Meinungsbildung, die oftmals der erste Schritt des Handelns ist. Und handeln müssen auch wir. Denn auch in unserer Generation gibt es Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt. Problematiken, Streitfragen und Ungerechtigkeiten, anders als in der Vergangenheit, aber dennoch gegenwärtig.
Autorin: Neele Seeberg